Medicus 03 - Die Erben des Medicus
dahinritt. R.J. hupte nicht, sie hatte Angst, das Tier zu erschrecken.
Ein paar Tage später saß R.J. in ihrem Wohnzimmer und schaute zum Fenster hinaus. Durch die Lücken zwischen den Apfelbäumen sah sie Sarah Markus, die auf ihrem Pferd langsam die Laurel Hill Road entlangritt und dabei R.J.s Haus musterte.
R.J. interessierte sich für Sarah nicht nur wegen deren Vaters, sondern auch wegen des Mädchens selbst, und vielleicht auch noch aus einem anderen Grund. Irgendwo im Hinterkopf hatte sie ein verschwommenes Bild, eine Möglichkeit, über die sie im Augenblick noch gar nicht nachzudenken wagte: die Vorstellung von ihnen dreien als Gemeinschaft, sie, David und dieses Mädchen als ihre Tochter.
Einige Minuten später kamen Pferd und Reiterin die Straße wieder herunter, und Sarah beobachtete noch immer das Haus und dessen Umgebung. Am Ende des Grundstücks angelangt, drückte sie dem Pferd die Fersen in die Flanke, und Chaim begann zu traben.
Zum erstenmal seit langer Zeit gestattete R.J. sich einen Gedanken an ihre Schwangerschaft und die Fehlgeburt nach Charlie Harris' Tod. Wenn das Baby zur Welt gekommen wäre, wäre es jetzt dreizehn Jahre alt, drei Jahre jünger als Sarah.
Sie trat ans Fenster und hoffte, Sarah würde das Pferd wenden und noch einmal vorbeireiten.
Als sie eines Tages in der Abenddämmerung nach Hause kam, fand sie vor ihrer Tür einen etwa handtellergroßen Stein in Herzform. Es war ein wunderschöner Herzstein mit zwei äußeren Schichten aus dunkelgrauem Gestein und einer inneren Schicht aus hellerem Material, in dem Glimmerstückchen funkelten.
Sie wußte, wer ihn da hingelegt hatte. Aber war es ein Zeichen der Anerkennung? Symbol für einen Waffenstillstand? Der Stein war einfach zu schön, um eine Kriegserklärung zu bedeuten, da war R.J. sich ganz sicher.
Sie freute sich sehr über diesen Herzstein, und sie nahm ihn mit ins Haus und legte ihn an einen Ehrenplatz neben den Messingkerzenständern ihrer Mutter auf den Kaminsims.
Frank Sotheby stand auf der Veranda seines Ladens und räusperte sich. »Also ich denk mir, die zwei sollten vielleicht beide mal zu 'ner Krankenschwester gehen, oder, Doctor Cole? Die zwei leben ganz allein mit 'nem Rudel Katzen in der Wohnung über dem Eisenwarenladen. Dieser Gestank! Uäh!«
»Sie meinen, gleich da unten an der Straße? Warum habe ich die beiden dann noch nie gesehen?«
»Na ja, weil die ja kaum noch vor die Tür gehn. Die eine, Miss Eva Goodhue, ist uralt, und die andere, Miss Helen Phillips, Evas Nichte, die ist viel jünger, aber nicht ganz richtig im Oberstübchen. Eine sorgt für die andere, wenn man das so nennen kann.« Er zögerte. »Eva ruft mich jeden Freitag an und gibt mir ihre Einkaufsliste durch. Na ja... und letzte Woche kam ihr Scheck von der Bank zurück. War nicht gedeckt«
In dem dunklen, schmalen Treppenhaus gab es keine Glühbirne. Oben angekommen, klopfte R.J. an die Tür, und nachdem sie ziemlich lange gewartet hatte, klopfte sie fester. Immer und immer wieder.
Sie hörte keine Schritte, spürte aber eine schwache Bewegung hinter der Tür. »Hallo?«
»... Wer da?«
»Ich bin Roberta Cole. Ich bin die Ärztin.«
»Von Dr. Thorndike?« O Gott. »Dr. Thorndike ist ... ist schon ziemlich lange nicht mehr hier. Ich bin die neue Ärztin. Bitte, spreche ich mit Miss Goodhue oder mit Miss Phillips?«
»... Eva Goodhue. Was wollen Sie?«
»Nun, ich würde Sie gern kennenlernen, Miss Goodhue, einfach guten Tag sagen. Wenn Sie so freundlich wären, die Tür zu öffhen und mich einzulassen?«
Hinter der Tür herrschte Schweigen. Der Augenblick dehnte und dehnte sich. Das Schweigen hing schwer in der Luft.
»Miss Goodhue?«
Schließlich seufzte R.J. »Ich habe elne neue Praxis, nur ein Stückchen weiter unten an der Main Street. Bei Sally Howland im Erdgeschoß. Falls Sie je ärztliche Hilfe brauchen sollten, Sie oder Ihre Nichte, dann rufen Sie einfach an, oder schicken Sie jemanden, der mich holt! In Ordnung?« Sie zog eine Visitenkarte aus der Tasche und schob sie unter der Tür durch. »In Ordnung, Miss Goodhue?«
Aber sie erhielt keine Antwort, und so stieg sie die Treppe wieder hinunter.
Bei den seltenen Ausflügen zu ihrem Landhaus hatten sie und Tom gelegentlich wildlebende Tiere beobachten können, Hasen, Eichhörnchen und Backenhörnchen, die sich unter dem überhängenden Dach des Holzschuppens ihr Nest gebaut hatten. Aber jetzt, da sie ständig in dem Haus lebte, lernte sie eine Vielzahl von wilden
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