Medicus 03 - Die Erben des Medicus
Verbundenheit zwischen dem alten und dem jungen Mann bekamen. R.J. überwand ihre Abscheu. Sie konnte zwar nicht umhin, an all die Parasiten zu denken, die mit dem rohen Hirschherz in die Körper der beiden eindringen konnten, aber dann verdrängte sie diese Gedanken. Sie mußte zugeben, daß Wildfleisch einen hervorragenden Braten abgab, und sie griff herzhaft zu und lobte das Essen.
Sie hatte sich in eine kulturelle Umgebung begeben, die ihr erstaunlich wenig vertraut war. Manchmal schluckte sie schwer, wenn sie gezwungen war, sich Gepflogenheiten anzupassen, die ihrer Erfahrung fremd waren.
Eine ganze Reihe von Familien lebte schon seit vielen Generationen im Ort. Jan Smith'
Vorfahren etwa waren in den letzten Monaten des siebzehnten Jahrhunderts samt ihren Kühen von Cape Cod nach Woodfield gezogen, und sie hatten untereinander geheiratet, so daß jeder des anderen Cousin oder Cousine zu sein schien. Einige der Alteingesessenen in Woodfield waren Neuankömmlingen gegenüber aufgeschlossen und freundlich, andere dagegen nicht. R.J. fiel auf, daß Leute, die mehr oder weniger zufrieden waren mit sich selbst, die in sich ruhten, sich für gewöhnlich schnell neuen Freundschaften öffneten. Jene aber, die ihr Selbstverständnis nur aus ihren Vorfahren und dem Umstand, alteingesessen zu sein, bezogen, waren »neuen Leuten« gegenüber eher kritisch und kalt. Die meisten Einwohner von Woodfield waren froh über die neue Ärztin im Ort. Trotzdem war R.J. das ganze Umfeld nur wenig vertraut, und oft hatte sie das Gefühl, ein Pionier an einer neuen Grenze zu sein. Die Arbeit als Landärztin war ein Hochseilakt ohne Netz. Am Hospital in Boston hatte sie immer Labore und Diagnosetechnologie zur Hilfe gehabt, hier war sie auf sich allein gestellt. High-Tech war zwar verfügbar, aber sie und ihre Patienten mußten sich sehr anstrengen, um in ihren Genuß zu kommen.
Aus Woodfield schickte sie Kranke nur weg, wenn es unbedingt sein mußte, denn sie verließ sich lieber auf ihr eigenes Wissen und ihre Fähigkeiten. Aber es kam vor, daß sie einen Patienten untersuchte und plötzlich eine Alarmglocke in ihrem Kopf schrillte. Dann wußte sie, daß sie Hilfe brauchte. Solche Fälle überwies sie nach Greenfield, Northampton oder Pittsfield, manchmal sogar zu noch qualifizierteren Spezialisten und ausgefeilterer Technik nach Boston, New Haven oder Hanover, New Hampshire. Noch mußte sie sich häufig im Fremden tastend zurechtfinden, doch viele ihrer Patienten kannte sie bereits sehr genau. Sie hatte Einblick in die Winkel ihres Lebens, die ihre Gesundheit beeinflußten, und zwar auf eine Art, wie es nur einem Landarzt möglich ist.
Eines Nachts wurde sie von einem Anruf von Stacia Hinton, Gregory Hintons Frau, aus dem Schlaf gerissen.
»Dr. Cole, unsere Tochter Mary und unsere beiden Enkel sind aus New York bei uns zu Besuch. Die Kleinste, Kathy, ist zwei Jahre alt. Sie hat Asthma, und jetzt hat sie auch noch eine schlimme Erkältung bekommen. Sie kann kaum atmen. Sie ist ganz rot im Gesicht, und wir machen uns Sorgen. Wir wissen nicht, was wir tun sollen.«
»Halten Sie sie über einen dampfenden Wasserkessel, und legen Sie ihr ein Handtuch wie ein kleines Zelt über den Kopf! Lassen Sie sie den Dampf einatmen! Ich bin gleich bei Ihnen, Mrs. Hinton.«
R.J. packte das Intubationsbesteck in ihre Tasche, doch als sie auf der Milchfarm der Hintons ankam, sah sie, daß eine Intubation nicht nötig sein würde. Der Dampf hatte bereits gewirkt Das Kind hatte Krupphusten, aber es bekam wieder Luft in die Lungen, und die Gesichtsfarbe normalisierte sich. R.J. hätte gern eine Röntgenaufnahme gemacht, um festzustellen, ob eine Epiglottitis vorlag, aber eine eingehende Untersuchung zeigte ihr, daß der Kehldeckel nicht in Mitleidenschaft gezogen war.
Sie diagnostizierte eine Schleimhautentzündung des Kehlkopfs und der Luftröhre. Kathy weinte während der gesamten Untersuchung, und danach erinnerte R.J. sich an etwas, das ihr Vater mit Kindern als Patienten gemacht hatte. »Möchtest du gern ein Dreirad von mir?«
Kathy nickte schniefend. R.J. wischte ihr die Tränen von den Wangen, zog dann einen sauberen Zungenspatel aus der Tasche und zeichnete mit ihrem Kugelschreiber ein Dreirad darauf. Das kleine Mädchen nahm den Spatel und betrachtete ihn interessiert »Willst du eines mit einem Clown darauf?«
Kathy nickte noch einmal, und bald darauf hatte sie ein Dreirad mit Clown. »Großen Vogel.«
»Oho!« Ihr visuelles
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