Medicus 03 - Die Erben des Medicus
Gedächtnis war zwar nicht besonders gut, aber sie schaffte es trotzdem, einen Vogel Strauß mit einem Hut zu zeichnen, und das Kind lächelte. »Muß sie ins Krankenhaus?« fragte Stacia Hinton.
»Ich glaube nicht«, erwiderte R.J. Sie ließ ihnen einige Musterpackungen mit Medikamenten da und stellte zwei Rezepte aus, die sie am nächsten Morgen in die Apotheke nach Shelburne Falls bringen sollten.
»Lassen Sie sie weiter Dampf einatmen! Wenn sie noch einmal Probleme bekommt, rufen Sie mich sofort!« sagte R.J. Dann ging sie mit steifen Gliedern zu ihrem Auto, fuhr schlaftrunken nach Hause und fiel wieder ins Bett. Am folgenden Nachmittag kam Greg Hinton in die Praxis und sagte zu Toby, er müsse die Ärztin persönlich sprechen. Er setzte sich ins Wartezimmer und las in einer Zeitschrift, bis R.J. Zeit für ihn hatte. »Was schulde ich Ihnen für letzte Nacht?«
Als sie es ihm sagte, nickte er nur und schrieb einen Scheck aus.
Sie sah, daß der Betrag auch die Schulden für seine früheren Besuche abdeckte. »Ich habe Sie gestern nacht nicht gesehen«, sagte R.J.
Er nickte noch einmal. »Ich habe mir gedacht, es ist besser, wenn ich mich nicht blicken lasse. Ich war ein sturer Trottel. Irgendwie war es mir peinlich, Sie mitten in der Nacht in mein Haus zu rufen, nachdem ich so mit Ihnen umgegangen bin.«
Sie lächelte. »Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf! Wie geht es Kathy heute?«
»Viel besser. Und dafür möchten wir Ihnen danken. Sie sind mir nicht mehr böse?«
»Nein, ich bin Ihnen nicht böse«, sagte sie und nahm die Hand, die er ihr entgegenstreckte.
Mit seiner Herde von einhundertfünfundsiebzig Kühen konnte Gregory Hinton es sich bequem leisten, seine Arztrechnungen zu bezahlen, aber R.J. behandelte auch Bonnie und Paul Roche, ein junges Ehepaar mit zwei kleinen Kindern, die mit ihren achtzehn Milchkühen ums Überleben kämpfen mußten. »Jeden Monat«, erzählte ihr Bonnie Roche, »lasse ich einen Tierarzt kommen, der unsere Kühe untersucht und ihnen die nötigen Spritzen gibt. Aber eine Krankenversicherung für uns selber können wir uns nicht leisten.
Bis Sie hierhergezogen sind, waren meine Kühe medizinisch besser versorgt als meine Kinder.«
Die Roches waren in Amerika kein Einzelfall. Im November ging R.J. zur Wahl in das alte, hölzerne Rathaus und gab Bill Clinton ihre Stimme. Clinton hatte ihren Patienten versprochen, er werde als Präsident der Vereinigten Staaten dafür sorgen, daß alle, die keine Krankenversicherung haben, eine bekommen. Dr. Roberta Cole wollte ihn beim Wort nehmen, und deshalb warf sie ihren Stimmzettel ein, als wäre er ein Brandsatz, den sie an das Gesundheitssystem legte.
Über der Schneegrenze
»Sarah hatte Sex.« R.J. zögerte einen Augenblick, und dann fragte sie vorsichtig: »Woher weißt du das?«
»Sie hat es mir gesagt.«
»David, das ist doch wunderbar, daß sie mit dir über etwas so Intimes reden kann! Du mußt eine erstaunlich gute Beziehung zu ihr haben.«
»Ich bin fix und fertig«, sagte er leise, und sie sah, daß es stimmte. »Ich wollte, daß sie wartet, bis sie reif dafür ist. Früher war das einfacher, da wurde von den Frauen erwartet, daß sie bis zur Hochzeitsnacht Jungfrauen blieben.«
»David, sie ist siebzehn. Einige würden sagen, sie ist schon fast überfällig. Ich habe elfjährige Kinder behandelt, die bereits Sex hatten. Es stimmt, daß einige Frauen mit dem Sex bis zur Heirat warten, aber die gehören zu einer aussterbenden Spezies. Und sogar damals, als man von unverheirateten Frauen erwartete, daß sie Jungfrauen blieben, waren viele es nicht« Er nickte. Den ganzen Abend war er schweigsam und verdrossen gewesen, aber jetzt begann er, liebevoll von seiner Tochter zu reden. Er sagte, er und Natalie hätten mit Sarah vor und während ihrer Pubertät über Sexualität gesprochen, und jetzt erkenne er, was für ein Glück er habe, daß sie noch immer bereit war, so offen mit ihm über dieses Thema zu sprechen. »Sarah hat zwar nicht gesagt, wer ihr Partner war, aber da sie nur mit Bob Henderson geht, darf man wohl annehmen, daß er es war. Sie hat gesagt, daß sie es als Experiment gesehen haben, daß sie und der Junge sehr gute Freunde sind und sie beide das Gefühl hatten, sie müßten es endlich mal hinter sich bringen.«
»Willst du, daß ich mit ihr über Verhütung und solche Sachen rede?« R.J. hoffte sehr, er würde ja sagen. Aber er machte ein erschrockenes Gesicht.
»Nein, ich glaube, das ist nicht
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