Medicus 03 - Die Erben des Medicus
es noch zehn oder zwanzig Jahre, bis die Stromkabel zu allen Häusern der Gemeinde verlegt waren. Die erste Melkmaschine bekamen wir erst, als ich schon siebenundzwanzig war. Und das war wirklich eine Veränderung zum Besseren.«
Sie sprach nicht über Helens Tod. R.J. schnitt das Thema an, weil sie meinte, es würde der alten Frau guttun, darüber zu reden, aber Eva starrte sie nur aus müden Augen an, die so tief und unergründlich waren wie Seen.
»Sie war eine herzensgute Seele, das einzige Kind meines Bruders Harold. Natürlich vermisse ich sie. Ich vermisse sie alle, oder zumindest die meisten. Ich habe länger gelebt als alle, die ich früher gekannt habe«, sagte sie.
Heimischwerden
An einem milden Tag Mitte Oktober sah R.J. beim Verlassen des Krankenhauses in Greenfield auf dem Parkplatz Susan Millet, die einem rotgesichtigen Mann mit schütteren Haaren gerade etwas erklärte. Er war groß und kräftig, aber leicht gebeugt, als wäre sein Rückgrat aus verbogenem Zinn, und seine linke Schulter hing etwas tiefer als die rechte. Degenerative Skoliose, dachte sie.
»Hallo, R.J.! Hier habe ich jemanden, den ich Ihnen gern vorstellen möchte. Dr. Daniel Noyes, das ist Dr. Roberta Cole.« Sie gaben sich die Hände. »Sie sind also Dr. Cole. Ich kann Ihnen sagen, von den drei Hebammen habe ich in letzter Zeit nichts anderes gehört als Ihren Namen. Sie sind Expertin für Hormone, hat man mir gesagt.«
»Expertin wohl kaum.« Sie berichtete ihm von ihrer Arbeit in der PMS-Clinic am Lemuel Grace Hospital, und er nickte dazu.
»Widersprechen Sie mir nicht! Das macht Sie zur größten Expertin, die wir bis dato hier hatten.«
»Ich möchte Entbindungen machen, weil das meiner Ansicht nach zu den Pflichten eines Hausarztes gehört. Dazu brauche ich die Unterstützung eines Gynäkologen und Geburtshelfers.«
»Soso, brauchen Sie die?« fragte er kühl. »Ja.« Sie musterten einander. »Und, war das jetzt eine Bitte um meine Mitarbeit?« Er ist mürrisch und barsch, dachte sie, so wie die Hebammen ihn beschrieben hatten. »Ja, darauf wollte ich hinaus. Mir ist klar, daß Sie nicht viel über mich wissen. Haben Sie zufällig Zeit zum Mittagessen?«
»Nicht nötig, daß Sie Geld für mein Mittagessen ausgeben. Die drei haben mir genug von Ihnen erzählt. Haben sie Ihnen gesagt, daß ich in zwölfeinhalb Monaten meinen Kittel an den Nagel hänge?«
»Ja, das haben sie.«
»Nun gut, wenn Sie trotzdem für diese kurze Zeit meine Mitarbeit wollen - mir soll's recht sein.«
»Großartig! Ich will Ihre Mitarbeit wirklich.«
Jetzt lächelte er. »Dann ist es also abgemacht. Und wie wär's, wenn ich jetzt Sie zum Mittagessen einlade und Ihnen ein paar Geschichten aus dem Leben eines Arztes in Western Massachusetts erzähle?«
Er war wirklich eine Seele von einem Menschen, das merkte sie jetzt. »Ich nehme die Einladung gern an.«
»Ich vermute, Sie wollen auch mitkommen«, sagte er nicht gerade sehr freundlich zu Susan, der man ansah, wie zufrieden sie war.
»Nein, ich habe einen Termin, gehen Sie nur, Sie beide!« Sie lachte in sich hinein, als sie zu ihrem Auto ging.
R.J. hatte viel zu tun, ihre Arbeitstage waren lang, und so war sie oft müde und wenig unternehmungslustig, wenn sie einmal ein wenig Zeit übrig hatte. Der Pfad durch den Wald machte keine großen Fortschritte, er reichte noch nicht viel weiter als bis zu den Biberteichen. Wenn sie zum Fluß wollte, mußte sie sich auch weiterhin durchs Dickicht kämpfen. Im Spätherbst konnten sie und David nicht in den Wald gehen, denn dort wimmelte es nun von Jägern mit geladenen Jagdgewehren und lockeren Abzugsfingern.
Es tat ihr in der Seele weh, immer und immer wieder erlegte Weißwedelhirsche auf den Ladeflächen von Pick-ups zu sehen.
Viele Leute im Hügelland gingen zur Jagd. Toby und Jan Smith luden R.J. und David zum Abendessen ein und servierten ihnen einen prächtigen Hirschrücken. »Hab einen jungen Hirsch vor die Flinte bekommen, einen Vierender, gleich oben auf dem Grat hinter dem Haus«, sagte Jan. »Ich geh immer am ersten Tag der Saison mit meinem Onkel Carter Smith auf die Jagd, schon von klein auf.« Wenn er und sein Onkel einen Hirsch erlegten, befolgten sie eine Smithsche Familientradition, erzählte er. Noch im Wald schnitten sie dem Wild das Herz heraus, zerteilten es und aßen es roh. Es machte ihm Spaß, von dieser Tradition zu berichten, und er erzählte so lebendig, daß die beiden Frauen einen Eindruck von der Zuneigung und der
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