Medicus 03 - Die Erben des Medicus
einen Menschen, zu dem sie eine starke persönliche Bindung hatte.
Sie konnte die medizinische Untersuchung nicht selbst durchführen, denn sie kam sich vor, als hätte sie selbst die Wehen bei Sarahs Geburt durchlitten, als wäre sie dabeigewesen, als Sarah auf den Teppichboden des Kaufhausaufzugs gepinkelt hatte, als hätte sie sie an ihrem ersten Schultag begleitet.
Sie griff zum Telefon, rief Daniel Noyes' Praxis in Greenfield an und vereinbarte für Sarah einen Untersuchungstermin.
Dr. Noyes sagte, soweit er das feststellen könne, sei Sarah in der fünfzehnten Woche schwanger.
Zu lange. Der straffe junge Bauch des Mädchens war zwar noch kaum gewölbt, aber lange würde es nicht mehr dauern. R.J. wußte, daß mit jedem Tag, der jetzt noch verstrich, die Zellen sich vervielfachten, der Fötus wuchs und die Abtreibung immer komplizierter würde.
Sie arrangierte eine Anhörung vor Richter Geofirey J. Moynihan. Sie fuhr Sarah zum Gerichtsgebäude, küßte sie vor der Tür des Richterzimmers, setzte sich dann auf die polierte Holzbank in dem marmorverkleideten Korridor und wartete.
Zweck der Anhörung war es, Richter Moynihan davon zu überzeugen, daß Sarah reif genug war für eine Abtreibung. In R.J.s Augen stellte diese Anhörung eine Farce dar:
Wenn Sarah nicht reif genug war für eine Abtreibung, wie konnte sie dann reif genug sein, ein Kind auszutragen und aufzuziehen?
Das Gespräch mit dem Richter dauerte zwölf Minuten. Als Sarah aus dem Zimmer kam, nickte sie ernst.
R.J. legte dem Mädchen den Arm um die Schultern, und gemeinsam gingen sie zum Auto.
Ein kurzer Ausflug
Was ist schon eine Lüge? Nichts als die Wahrheit in Verkleidung«, schrieb Byron. R.J. haßte die Verkleidung. »Ich möchte deine Tochter für ein paar Tage nach Boston einladen, wenn du nichts dagegen hast, David. Frauen unter sich.«
»Wow! Was gibt's denn Besonderes in Boston?«
»Zum einen eine Inszenierung von Les Miserables durch eine Tourneetruppe. Und dann nehmen wir uns die Freiheit und machen einen gründlichen Schaufensterbummel. Ich will, daß wir zwei uns besser kennenlernen.« Sie fühlte sich gedemütigt durch diese Lüge, sah aber keinen anderen Ausweg. David war von der Idee sehr angetan, küßte R.J. und schickte die beiden fröhlich und mit seinen besten Wünschen auf den Weg.
R.J. rief Mona Wilson in Jamaica Plain an und sagte, daß sie Sarah Markus in die Klinik bringen werde, eine siebzehnjährige Patientin im zweiten Trimester der Schwangerschaft. »Das Mädchen bedeutet mir sehr viel, Mona. Wirklich sehr viel.«
»Gut, R.J., wir werden uns um sie kümmern«, erwiderte Mona, und sie klang dabei ein bißchen weniger herzlich als früher.
R.J. verstand das als Hinweis, daß für Mona jede Patientin etwas Besonderes war, aber sie ließ sich nicht einschüchtern.
»Arbeitet Les Ustinovich noch bei euch?«
»Ja.«
»Könnte ich Les filr sie haben, bitte?«
»Dr. Ustinovich für Sarah Markus. So machen wir es.«
Als R.J. Sarah abholte, erschien sie ihr zu fröhlich, zu ausgelassen. Auf R.J.s Rat hin trug sie einen lockeren Zweiteiler, denn sie hatte erfahren, daß sie nur ihren Unterleib würde freimachen müssen.
Es war ein milder Sommertag mit einer Luft klar wie Glas, und R.J. fuhr langsam und vorsichtig über den Mohawk Trail und die Route 2, so daß sie knapp drei Stunden nach Boston brauchten.
Vor der Klinik in Jamaica Plain standen zwei gelangweilt aussehende Polizisten, die R.J. nicht kannte, aber keine Demonstranten. Als sie das Gebäude betraten, stieß die Frau am Empfang, Charlotte Mannion, einen Freudenschrei aus, kaum daß sie R.J. erkannt hatte.
»Willkommen aus der Fremde!« sagte sie, eilte hinter dem Tresen hervor und küßte R.J. auf die Wange. Es hatte große Fluktuationen im Personal gegeben, und die Hälfte der Leute, die R.J. an diesem Vormittag sah, waren ihr unbekannt. Die anderen machten viel Tamtam um das Wiedersehen, was R.J. freute, weil es Sarah ganz offensichtlich zuversichtlich stimmte. Sogar Mona hatte ihre Zurückhaltung aufgegeben und drückte sie lange und fest an sich. Les Ustinovich, zerzaust und unwirsch wie immer, schenkte ihr nur ein knappes Lächeln, aber es war herzlich. »Wie lebt es sich im Grenzland?«
»Sehr gut, Les.« Sie stellte ihm Sarah vor, nahm ihn dann beiseite und gab ihm leise zu verstehen, daß ihr diese Patientin sehr wichtig sei. »Ich bin froh, daß Sie Zeit haben, sie zu behandeln.«
»So?« Er überflog Sarahs Unterlagen und bemerkte,
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