Medicus 03 - Die Erben des Medicus
starrte auf das, was sie sich notiert hatte:
ISAIAH NORMAN GOODHUE
Geh in Unschuld zu Gott
12. Nov. 1915
Harry Crawfords Familie hatte also nichts mit den kleinen Knochen zu tun. R.J. hatte in der falschen Richtung geforscht. Sie versicherte sich in den Annalen der Gemeinde, daß Isaiah Norman Goodhue tatsächlich der Bruder Norm war, mit dem Eva fast ihr ganzes Leben lang allein zusammengelebt hatte.
Doch das bedeutete keine einfache Lösung, sondern warf nur neue Fragen auf, gab Anlaß zu Hypothesen, von denen eine beunruhigender war als die andere.
1915 war Eva ein vierzehnjähriges Mädchen gewesen, zwar schon gebärfähig, aber in vieler Hinsicht doch immer noch ein Kind. Sie und ihr Bruder hatten allein in diesem abgelegenen Farmhaus an der Laurel Hill Road gelebt.
Falls dieses Baby Evas Kind gewesen war, war der Vater dann ein Unbekannter oder ihr eigener Bruder?
Der Name auf dem Tontäfelchen schien diese Frage zu beantworten.
Isaiah Norman Goodhue war dreizehn Jahre älter als seine Schwester. Er hatte nie geheiratet, er verbrachte sein Leben zurückgezogen und bewirtschaftete die Farm allein. Er hatte Eva gebraucht, damit sie für ihn kochte, das Haus in Ordnung hielt und ihm mit den Tieren und auf dem Feld half.
... Und seine anderen Bedürfnisse?
Und wenn Bruder und Schwester die Eltern waren, war Eva dann gezwungen worden? Oder war es eine inzestuöse Liebesgeschichte gewesen?
Welches Entsetzen und welche Bestürzung mußte das Mädchen angesichts dieser Schwangerschaft empfunden haben!
Und danach. R.J. konnte sich Evas Gefühle vorstellen: verängstigt, von Schuldgefühlen geplagt, weil ihr Kind in ungeweihter Erde lag, mitgenommen von der Geburt und vermutlich ohne Nachsorge oder nur mit ungenügender. Ganz offensichtlich hatte man die Feuchtwiese des Nachbarn deshalb als Grabstelle gewählt, weil sie wertlos war und deshalb nie umgepflügt würde. Hatten Bruder und Schwester das Kind gemeinsam begraben? Das Tontäfelchen hatte weniger tief in der Erde gelegen als das Skelett R.J. glaubte, daß Eva es beschriftet hatte, um Namen und Geburtsdatum ihres toten Sohnes aufzuzeichnen - das einzige Andenken, das ihr blieb -, und sich dann zu der Stelle geschlichen hatte, um es über ihrem Baby zu vergraben.
Eva hatte fast ihr ganzes Leben lang von ihrem Haus auf die Feuchtwiese hinuntergesehen. Was hatte sie wohl empfunden, wenn sie Crawfords Kühe dort weiden sah, die in den Morast pißten und koteten?
Mein Gott, war das Kind vielleicht lebend geboren worden? Nur Eva hätte diese dunklen Fragen beantworten können. Die ganze Wahrheit würde R.J. nie erfahren, und das war auch gut so. Sie wollte das Täfelchen nun nicht mehr im Wohnzimmer ausstellen. Zu deutlich zeugte es von einer Tragödie, spiegelte zu offensichtlich das Leid eines Mädchens vom Lande in tiefer Verzweiflung, und R.J. wickelte es in Packpapier und legte es in die unterste Schublade ihres Wohnzimmerschranks.
Auf dem Pfad
Die Beschäftigung mit der jungen Eva warf einen gespenstischen Schatten auf R.J., den nicht einmal ihr entschlossenes Musizieren aufhellen konnte. Jetzt verließ sie gerne jeden Morgen das Haus, denn sie brauchte dringend den Kontakt mit Menschen, und sie fand ihn bei ihrer Arbeit. Aber auch die Praxis war ein problematischer Ort, weil Tobys ausbleibende Schwangerschaft deren Belastbarkeit im Alltag beeinträchtigte. Sie schien reizbar und aufbrausend, und was noch schlimmer war, R.J. merkte, daß Toby sich ihrer eigenen Unausgeglichenheit bewußt war.
R.J. war klar, daß sie über kurz oder lang mit ihr darüber würde reden müssen, aber Toby war inzwischen weit mehr als nur eine Angestellte und eine Patientin. Die beiden waren enge Freundinnen geworden, und R.J. schob die Konfrontation so lange wie möglich hinaus. Trotz dieser zusätzlichen Belastung blieb sie jeden Tag lange in der Praxis und kehrte nur widerstrebend in ihr stilles Haus, in das einsame Schweigen zurück.
Sie fand Trost in der Gewißheit, daß der Winter bald zu Ende gehen würde. Die Schneewälle am Straßenrand schmolzen. Die sich erwärmende Erde saugte das Schmelzwasser auf, und die Sirupkocher begannen wie jedes Jahr, die Ahornbäume anzuzapfen und den kostbaren Saft zu sammeln. Noch im Dezember hatte Frank Sotheby eine mottenzerfressene Skihose und ein Paar alte Tennisschuhe mit Lumpen ausgestopft. Vor seinem Laden hatte er diesen Unterleib zusammen mit je einem Ski und Skistock in einen Schneehaufen gesteckt, so daß es aussah,
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