Medicus 03 - Die Erben des Medicus
gelungen, denn sie war bis zu den Oberschenkeln im Schnee versunken, der auf dem schattigen Pfad noch nicht zu tauen begonnen hatte. Als sie es im April wieder versuchte, lag zwar noch etwas Schnee, aber sie konnte, wenn auch noch ein wenig mühsam, auf ihm gehen. Der Winter hatte die Wildnis noch wilder gemacht, und der Pfad war wegen der vielen herabgestürzten Äste, die erst weggeräumt werden mußten, unwegsam. Sie hatte das Gefühl, als würde der Waldgeist auf sie herabstarren. Auf einer noch schneebedeckten Stelle entdeckte sie Spuren wie von einem barfüßigen Mann mit breiten Füßen und zehn scharfen Klauen. Aber die großen Zehen lagen außen, und R.J. wußte sofort, daß diese Spuren von einem großen Bären stammten. Sie blies die Backen auf und pfiff, so laut sie konnte, aus irgendeinem Grund My Old Kentucky Home , auch wenn diese Melodie Bären wohl eher einschläfern als in die Flucht jagen konnte.
An drei Stellen waren Bäume über den Pfad gestürzt R.J. holte sich eine Bügelsäge aus ihrer Scheune und versuchte mit ihr, die umgestürzten Bäume zu zerkleinern. Schnell raerkte sie, daß diese Säge ungeeignet war und die Arbeit viel zu lange dauerte.
Für gewisse Dinge brauche ich einfach einen Mann, sagte sie resigniert zu sich.
Ein paar Tage lang überlegte sie, wen sie bitten könnte, ihr gegen Bezahlung den Pfad freizuräumen und ihn vielleicht entlang des Flußufers zu verlängern. Doch ein paar Tage später stand sie bereits nachmittags in der Landmaschinenhandlung und erkundigte sich nach Kettensägen. Die Sägen sahen lebensgefährlich aus, und R.J. wußte, daß sie so bedrohlich sein konnten, wie sie aussahen. »Die jagen mir eine Heidenangst ein«, gestand sie dem Verkäufer. »Na, das sollten sie auch. Damit sind Sie Ihr Bein genauso schnell los, wie Sie einen Ast durchsägen«, sagte er leichthin. »Aber solange Sie sie fürchten, sind die Dinger ungefährlich. Unfälle passieren nur denen, die sich so sicher fühlen, daß sie mit der Säge leichtsinnig umgehen.«
Es gab Kettensägen von verschiedenen Herstellern und unterschiedliche Gewichts - und Längenklassen. Der Verkäufer zeigte ihr das kleinste, leichteste Modell. »Die meisten Frauen entscheiden sich für die.« Doch als sie ihm sagte, wozu sie die Säge brauchte, schüttelte er den Kopf und zeigte ihr eine größere Säge. »Das ist eine mittelschwere. Ihre Arme werden zwar schneller müde, und Sie müssen öfters Pause machen, aber mit diesem Modell schaffen Sie auch mehr als mit dem kleinen.« Ein halbes dutzendmal ließ sie sich zeigen, wie man die Säge anließ, wie man sie abschaltete und wie die Automatikbremse eingestellt sein mußte, damit das rasende Sägeblatt ihr nicht den Schädel aufriß, wenn die Säge an irgend etwas hängenblieb und zurückschnellte.
Doch als sie die Säge dann zusammen mit einer Dose Schmieröl und einem vollen Kanister Benzin nach Hause gebracht hatte, kamen ihr Zweifel. Nach dem Abendessen studierte sie sorgfältig die Bedienungsanleitung und erkannte, daß der Kauf Unsinn gewesen war. Die Säge war zu kompliziert, das Gerät konnte viel zu viel Schaden anrichten, und sie würde nie den Mut aufbringen, allein in den Wald zu gehen und mit diesem gefährlichen Werkzeug zu arbeiten. Sie deponierte alles in einem Winkel der Scheune und versuchte, nicht mehr daran zu denken.
Zwei Tage später kam sie am späten Nachmittag von der Praxis zurück und holte wie üblich die Post aus dem Briefkasten an der Straße. Sie trug sie die lange Auffahrt zum Haus hoch, setzte sich an den Küchentisch und verteilte die Sendungen auf drei Stapel: zum einen Sachen, mit denen sie sich später beschäftigen würde, also Rechnungen, Kataloge und Zeitschriften, die sie interessierten; dann Briefe; und schließlich all die Postwurfsendungen, die ungelesen in den Abfall wanderten.
Der Umschlag war quadratisch, mittelgroß und hellblau. Kaum hatte sie die Handschrift erkannt, wurde die Luft im Zimmer dicker, wärmer und schwerer zum Atmen.
Sie riß das Kuvert nicht überstürzt auf, sie behandelte es eher wie eine Briefbombe und untersuchte es sorgfaltig von beiden Seiten. Ein Absender war nicht angegeben. Der Poststempel war drei Tage alt und stammte aus Akron, Ohio.
Sie nahm ihren Brieföffner zur Hand und schlitzte den Umschlag ordentlich an der Oberkante auf.
Es war eine Glückwunschkarte: FROHE OSTERN.
Als sie die Karte aufschlug, sah sie Davids verkrampfte, schräge Handschrift: Meine liebe R.J., ich
Weitere Kostenlose Bücher