Medicus 03 - Die Erben des Medicus
beachtliche Anzahl von Bäumen gefallt hatten. Bevor der Schwimmer auch nur einmal gezuckt hatte, kam ein Königsfischer herbei und verspottete sie mit seinem Ruf. Er tauchte blitzschnell ins Wasser und flog mit einem Fisch im Schnabel wieder davon. R.J. fühlte sich dem Vogel unterlegen, doch schließlich fing sie zwei schöne, kleine Bachforellen, die sie sich, zusammen mit einer Menge gedünsteter Zimtfarnsprossen, zum Abendessen zubereitete.
Als sie nach diesem Frühlingsmahl den Abfall hinausbrachte, entdeckte sie an der Stelle, an der sie zuvor die Würmer ausgegraben hatte, einen schwarzen Herzstein, und sie stürzte sich auf ihn, als könne er davonlaufen. Sie trag ihn ins Haus, wusch und polierte ihn, bis er glänzte, und legte ihn dann auf ihren Fernsehapparat. Kaum war die Erde völlig vom Schnee befreit, war es, als hätte R.J. Sarah Markus' Talent zum Herzsteinfinden geerbt. Wohin sie auch ging, fiel ihr Blick auf diese Gebilde, als würde er von Sarahs Geist gelenkt. Es gab sie in allen Ausformu ngen: Steine mit birnenförmig ausladenden Herzbögen und tiefen Kerben, Steine mit eckigen, aber symmetrischen Bögen, Steine mit Spitzen so scharf wie ein Dolch oder geformt wie der flache Bogen einer Kinderschaukel.
Einen Stein, der so winzig war wie ein glattes, braunes Muttermal, fand sie in einer Tüte mit Blumentopferde. Einen von der Größe einer Faust entdeckte sie am Sockel einer bröckelnden Steinmauer an der Westgrenze ihres Besitzes. Sie fand sie bei der Arbeit im Wald, auf der Laurel Hill Road oder beim Einkaufen entlang der Main Street. In Woodfield sprach sich diese Vorliebe der Ärztin für herzförmige Steine sehr schnell herum. Die Leute halfen ihr bei ihrem Hobby, sammelten für sie Steine und brachten sie ihr mit stolzem Gesichtsausdruck ins Farmh aus oder in die Praxis. Oft kam es vor, daß sie abends beim Nachhausekommen die Taschen, die Geldbörse oder die Einkaufstüten voller Steine hatte. Sie wusch und polierte sie und zerbrach sich dann den Kopf, wo sie sie unterbringen solle. Sehr schnell war das Gästezimmer zu klein für ihre Sammlung. Bald waren die Herzsteine auch übers ganze Wohnzimmer verteilt, auf dem Sims der Holztäfelung und über dem Kamin, auf dem Beistelltischchen und dem Couchtisch. Aber auch auf der Küchenanrichte und im Bad im ersten Stock sowie auf der Spiegelkommode im Schlafzimmer und auf dem Spülkasten in der Toilette im Erdgeschoß.
Die Steine sprachen zu ihr, sandten traurige, wortlose Botschaften aus, die sie an Sarah und David erinnerten. Sie wollte sie nicht hören, und doch sammelte sie die Steine zwanghaft. Sie kaufte sich ein Geologiehandbuch und begann, die Steine zu klassifizieren. Es bereitete ihr Freude, den einen als Basalt aus der jüngeren Juraperiode zu identifizieren, einer Zeit, da Monsterwesen durch dieses Tal gezogen waren, und einen anderen als erstarrtes Magraa, das vor Millionen von Jahren vom flüssigen Erdkern als siedende, zähe Masse ausgestoßen worden war, oder zu wissen, daß dieser Stein aus miteinander verschmolzenem Sand und Kies einer Zeit entstammte, als ein tiefer Ozean diese Hügel bedeckte, und daß jenes Stückglitzernder Gneis wahrscheinlich ein langweilig sandfarbener Stein gewesen war, bevor die kollidierenden Kontinente ihn im Dampfkochtopf der Metamorphose verwandelten. Eines Nachmittags in Northampton kam R.J. in der King Street an einer Baugrube vorbei, in der neue Abwasserrohre verlegt wurden. Es war ein etwa eineinhalb Meter tiefer Graben, der mit Holzböcken, Metallgittern und gelbem Plastikband abgesperrt war. In einer Furche des Grabens entdeckte sie etwas, das sie erstaunt die Augen aufreißen ließ: einen rötlichen, wohlgeformten Stein von gut funfunddreißig Zentimetern Länge und etwa fünfundvierzig Zentimetern Breite. Das versteinerte Herz eines ausgestorbenen Riesen.
Die Baustelle war verlassen. Die Arbeiter hatten bereits Feierabend gemacht, und es war niemand mehr da, den sie hätte bitten können, den Stein für sie heraufzuholen. Schade, dachte R.J. und ging weiter. Aber schon nach fünf Schritten drehte sie sich um und kehrte zurück. Ohne Rücksicht auf ihre neue Hose kroch sie unter dem Absperrband hindurch, setzte sich mit baumelnden Beinen auf den Grabenrand, stieß sich mit den Händen ab und sprang in die Grube.
Der Stein war wirklich so schön, wie er von oben ausgesehen hatte. Aber er war sehr schwer, sie konnte ihn nur mit Mühe hochheben, und sie mußte ihn erst bis auf Kinnhöhe
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