Medicus 03 - Die Erben des Medicus
Stück ein. Sie hüpfte noch ein paarmal, und der Balken rutschte noch ein wenig tiefer. Ihr Maßband zeigte ihr, daß die Brücke auf der rechten Seite fünfunddreißig Zentimeter tiefer lag als auf der linken.
Sie war natürlich selbst schuld an diesem Problem, weil sie die Erde unter dem Balken nicht festgestampft hatte. Sie sah auch ein, daß es vermutlich klüger gewesen wäre, einen flachen Stein unter jedes Balkenende zu legen.
Sie stieg abermals in den Bach und versuchte, die Brücke auf der rechten Seite anzuheben, aber sie konnte die Konstruktion keinen Zentimeter bewegen. Frustriert betrachtete sie ihr schiefes Bauwerk. Wenn die Brücke nicht noch weiter sank, würde man sie mit vorsichtigen Schritten überqueren können, aber es wäre töricht gewesen, sie mit einer schweren Last oder einem vollbeladenen Schubkarren betreten zu wollen. R.J. suchte ihr Werkzeug zusammen und trottete todmüde und sehr enttäuscht nach Hause. Von nun an würde es ihr deutlich weniger Spaß machen, sich zu sagen, daß sie alles schaffen konnte, denn sie mußte eine Einschränkung hinzufügen: »...fast.«
Wiedervereinigungen
Eines Tages, als das Wartezimmer bis auf den letzten Platz besetzt war, so daß Nordahl Peterson draußen auf der Eingangsstufe sitzen mußte, kam George Palmer in die Praxis. Als er schließlich an der Reihe war und sie mit ihm über seine Schleimbeutelentzündung gesprochen und ihm erklärt hatte, warum sie ihm kein Kortison mehr verschreibe, nickte er und dankte ihr, machte aber keine Anstalten zu gehen. »Unser jüngstes Kind heißt Harold. Unser Baby«, sagte er sarkastisch. »Jetzt zweiundvierzig Jahre alt: Harold Wellington Palmer.«
R.J. lächelte und nickte.
»Buchhalter. Lebt in Boston. Das heißt, er hat die letzten zwölf Jahre in Boston gelebt.
Jetzt kommt er zu uns zurück. Er zieht wieder nach Woodfield.«
»Oh! Aber das freut Sie doch sicher, George«, erwiderte sie vorsichtig, da sie nicht genau wußte, ob es sich wirklich um einen freudigen Anlaß handelte.
Es zeigte sich, daß es das für George ganz und gar nicht war. »Harold ist HIV-positiv, wie man das nennt. Er kommt mit seinem Freund Eugene zu uns. Die beiden leben schon neun Jahre zusammen ...« Er schien plötzlich den Faden verloren zu haben, fand ihn dann aber unvermittelt wieder. »Na ja, er wird einen Arzt brauchen, der sich um ihn kümmert.«
R.J. faßte Georges Hand. »Dann werde ich ihn ja bald kennenlernen. Ich bin gern seine Ärztin«, sagte sie und drückte die Hand des pensionierten Sägewerksarbeiters. George Palmer lächelte sie an, dankte ihr und verließ das Sprechzimmer.
Nur noch ein kurzes Waldstück lag zwischen dem gegenwärtigen Ende des Pfads und ihrem Haus, aber die so unglücklich abgesackte Brücke hatte R.J.s Begeisterung gedämpft, und so stellte die Arbeit im Gemüsegarten eine willkommene Abwechslung für sie dar. Es war noch zu früh für zartes Gemüse. In ihren Gartenbüchern las sie zwar, daß sie schon vor einigen Wochen Erbsen hätte säen sollen, anstatt im Wald zu arbeiten, aber dank des kühlen Hügelklimas hatte sie noch Spielraum, und deshalb verteilte sie Torfmoos, Kompost und zwei Sack gekauften Grünsand auf die Hochbeete, die sie mit David gebaut hatte, und grub alles unter. Sie säte Zuckerschoten, die sie besonders gerne mochte, und Spinat, da sie wußte, daß beiden Gemüsen der immer noch regelmäßig auftretende Nachtfrost nichts anhaben konnte.
Sie goß sehr sorgfältig - nicht zu viel, um die Samenkörner nicht zu ertränken, nicht zu wenig, damit sie nicht austrockneten - und wurde schließlich mit einer Reihe Keimlinge belohnt, die sich jedoch kaum eine Woche hielten. Eines Morgens waren sie einfach verschwunden, und der einzige Hinweis auf ihren Verbleib war der einzelne, aber perfekte Hufabdruck eines kleinen Hirschen in der samtigen Erde.
An diesem Abend ging sie zu Kaffee und Nachtisch zu den Smith und erzählte ihnen, was passiert war. »Was soll ich jetzt tun? Neu ansäen?«
»Du kannst es probieren«, sagte Toby. »Die Zeit dürfte noch reichen, um eine Ernte zu bekommen.«
»Aber es gibt viel Wild in den Wäldern«, sagte Jan. »Du solltest etwas unternehmen, um die Tiere von deinem Garten fernzuhalten.«
»Du bist doch der Fisch- und Wildexperte!« entgegnete R.J. »Wie stelle ich das an?«
»Na ja, einige holen sich beim Friseur Menschenhaare und streuen sie um die Beete. Ich habe das selber schon probiert Manchmal funktioniert's, manchmal
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