Medienmuendig
eingeteilt, in Wenigfernseher, Fernseher und Vielfernseher. Es stellte sich heraus, dass die Vielfernseher Meinungen und Vorstellungen hatten, die an vielen Stellen mit der Fernseh-Wirklichkeit eher übereinstimmten als mit ihrem tatsächlichen Umfeld. Sie fühlten sich deutlich stärker von Verbrechen bedroht als die Untersuchungsteilnehmer in den Vergleichsgruppen. Den Vielfernsehern war wohl klar,dass es sich bei jedem einzelnen Film, den sie gesehen hatten, nur um Fiktion handelte, aber dieses Wissen schützte sie nicht davor, insgesamt ein deutlich schwärzeres Weltbild zu entwickeln. 28
Selbst wenn Greta also schon eine gute RFU-Kompetenz mitbrachte, schützt sie das nicht vor Veränderung in ihren Vorstellungen von Beziehung. Es wäre also zu fragen: Wie wirkt sich die von Greta stundenlang eingeübte und gut »beherrschte« Sims-Methode, Beziehungen zum Funktionieren zu bringen, auf ihr Selbstbild aus und schließlich auf ihre Vorstellungen von echten Beziehungen? Um es noch ein wenig komplizierter zu machen: Wie wirkt sich unabhängig von den genauen Inhalten des Spiels allein die Tatsache, dass Greta in Abwesenheit eines menschlichen Gegenübers vor einem Bildschirm sitzt und Tasten drückt, um Beziehungen zu »üben«, auf ihr Menschenbild aus? Die Botschaft von Sims in eingedampfter Form lautet ja: Beziehungen sind kalkulierbar. Wenn
ich
alles richtig mache, dann klappt es immer. 29 Es könnte gut sein, dass die Fähigkeit der achtsamen Beobachtung von Anderen, das Sensorium zur »Wahrnehmung des Wesentlichen« an Anderen, die Dialogfähigkeit mit Anderen, 30 aber auch die Fähigkeit zur Bewältigung des Scheiterns von Beziehungen mit Anderen großen Schaden nimmt. Zudem ist die Überzeugung gefährdet, dass sowohl
ich
als auch der oder die
Andere
als Menschen einzigartig und unersetzlich sind.
Nicht nur Sims, auch ein Online-Rollenspiel ließe sich auf einer solchen Ebene auf mögliche seelische Wirkungen hin anschauen. Wie wirkt es sich wohl aus, wenn meine Figur im Spiel, auch
Avatar
genannt, immer wieder stirbt und immer wieder aufersteht? Wiederauferstehung wird dadurch jedenfalls zu einer so normalen Idee, dass man im Spieler-Jargon sogar hören wird: »Soll ich dich mal eben rezzen?« Rezzen ist dabei die Abkürzung für resurrect und bedeutet wiederauferstehen.
Vom Computerpionier zum Kritiker – Joseph Weizenbaum
Joseph Weizenbaum, langjähriger Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) konnte sich als Mit-Entwickler des Internet-Vorläufers Arpanet ein Urteil erlauben, wenn es um Computer ging. Zu seinem Tod im Jahr 2008 titelte der Spiegel:
»Der Kritiker geht, die Kritik bleibt bestehen. Er galt als Pionier der Künstlichen Intelligenz – und als rigoroser Kritiker des naiven Fortschrittsglaubens.«
Anfang der 1970er Jahre entwickelte er ein unter dem Namen ELIZA zu Weltruhm gekommenes Sprachanalyseprogramm. Das Programm konnte nach einem der vorgesehenen Skripte auch die Rolle eines Psychotherapeuten (DOCTOR) spielen. 37
Was als nettes und durchschaubares Spielzeug zur Demonstrationder Leistungen von Sprachanalyseprogrammen entwickelt wurde, entpuppte ich als Selbstläufer. Weizenbaum berichtet über sein Schaudern, als seine Erfindung schon bald als Gewinn für die Arbeit an psychiatrischen Zentren angesehen wurde:
Es ist noch eine Weiterentwicklung nötig, bevor das Programm in der klinischen Anwendung eingesetzt werden kann. Wenn die Methode sich bewährt, dann wäre dies ein therapeutisches Werkzeug, das insbesondere in Einrichtungen mit Therapeutenmangel verwendet werden sollte. 38
Ebenso war er schockiert, als seine Sekretärin, die durch das Miterleben der Programmentwicklung genau wusste, dass kein echter Mensch hinter dem Bildschirm steckte, mit dem Programm in intime »Gespräche« geriet. Sie bat ihn sogar, das Zimmer zu verlassen, weil sie ganz in Ruhe mit ELIZA sprechen wollte. Und das war nur eine von vielen Situationen, in denen ELIZA »vermenschlicht« wurde. Aus dieser Bestürzung heraus schrieb Weizenbaum dann 1976 sein Buch
Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft
. Darin kritisiert er, als Reaktion auf seinen ELIZA-Schock, dass immer wieder formale Regeln von Computerprogrammen als »Intelligenz« missverstanden werden und dass damit Rechnerleistung auf eine Stufe mit dem menschlichen Denken gestellt wird. Als Folge dieses Missverständnisses beschreibt er dann, wie Menschen sich unter dem Einfluss des Computers vermehrt selbst
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