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Medizin für Melancholie

Medizin für Melancholie

Titel: Medizin für Melancholie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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Ort wäre logischerweise mehr dafür geeignet als eine Dachkammer wie die unsere?«
    »Damals ist nicht immer Sommer«, sagte sie. »Das ist nur deine verrückte Einbildung. Du behältst allein die guten Erinnerungen und vergißt die schlechten. Es war nicht immer Sommer.«
    »Im übertragenen Sinn doch, Cora.«
    »Nein, war es nicht.«
    »Ich meine das so«, flüsterte er aufgeregt und beugte sich vor, um das Bild zu sehen, das er auf der kahlen Eßzimmerwand entwarf. »Wenn du dein Hochrad vorsichtig zwischen den Jahren durchsteuern würdest, immer das Gleichgewicht haltend, mit ausgestreckten Händen – wenn du von einem Jahr zum anderen führest, eine Woche im Jahr 1909 verbrächtest, einen Tag im Jahre 1900, einen Monat oder vierzehn Tage irgendwo anders, 1905 oder 1898, so könntest du dein ganzes übriges Leben im Sommer verbringen.«
    »Hochrad?«
    »Du weißt schon, eines dieser hohen, einrädrigen Fahrräder aus Chrom, wie die Artisten sie jonglierend im Varieté vorführen. Gleichgewicht, echtes Gleichgewicht braucht man, um nicht runterzufallen, um die glänzenden schönen Gegenstände in die Luft fliegen zu lassen, hinauf und wieder hinauf, ein Lichtschein, ein Blitzen, ein Funkeln, eine Bombe leuchtender Farben, rot, gelb, blau, grün, weiß, gold. Alle Juni-, Juli- und Augustmonate, die jemals waren, wie in der Luft aufgehängt um dich her, sie berühren kaum deine Hände, und du gehst lächelnd zwischen ihnen hindurch. Gleichgewicht, Cora, Gleichgewicht.«
    » Bla«, sagte sie. »Blabla.« Und fügte hinzu: »Bla!«
     
     
    Er kletterte fröstelnd die lange kalte Treppe zur Dachkammer hinauf.
    Es gab Winternächte, in denen er mit Porzellan in den Knochen erwachte, mit kühlem Glockenklang, der ihm in den Ohren rauschte, Frost, der ihm in die Nerven drang wie ein grell aufleuchtendes, kalt explodierendes Feuerwerk, das in flammendem Schnee auf ein stilles Land tief in seinem Unterbewußtsein niederfiel. Ihm war so kalt, daß er wohl sechzig endlose Sommer mit ihren grünen Fackeln und bronzenen Sonnen brauchen würde, um diese winterliche Hülle aufzutauen. Er war ein großer Klumpen brüchigen Eises ohne Aroma, ein Schneemann, der jeden Abend ins Bett gelegt wurde, voll Konfettiträumen, einem Gestöber von Kristallen und Wind. Und draußen lag ewiger Winter, eine große bleierne Weinpresse, deren farbloser Deckel, der Himmel, sich herabsenkte, sie alle zerdrückte wie Trauben und Farbe, Sinn und Wesen von allen vermischte; nur die Kinder flohen auf Skiern und Rodelschlitten glatte Hügel hinab, in denen sich der erdrückende, eiserne Schild spiegelte, der sich mit jedem Tag und jeder endlosen Nacht tiefer über die Stadt hinabsenkte.
    Mr. Finch hob die Falltür zur Dachkammer. Hier dagegen! Sommerstaub flog um ihn auf. Der Staub der Dachstube wogte in der Hitze längst vergangener Jahreszeiten. Er schloß leise die Klappe.
    Er lächelte.
     
     
    Die Dachkammer war still wie eine Gewitterwolke vor dem Donner. Dann und wann hörte Cora Finch ihren Mann dort oben murmeln.
    Um fünf Uhr nachmittags stand Mr. Finch an der Küchentür; er sang »Meine Insel der goldenen Träume« und lüftete einen steifen neuen Strohhut. »Buh!«
    »Hast du den ganzen Nachmittag lang geschlafen?« fuhr seine Frau ihn an. »Ich habe viermal gerufen, und es kam keine Antwort.«
    »Geschlafen?« Er dachte darüber nach und lachte, dann legte er sich rasch die Hand auf den Mund. »Nun ja, schon möglich!«
    Plötzlich sah sie ihn. »Mein Gott!« rief sie. »Woher hast du dieses Jackett?«
    Er trug ein rotes, buntgestreiftes Jackett, einen hohen, engen weißen Kragen und kremfarbene Hosen. Der Strohhut roch wie ein Hauch von frischem Heu.
    »Hab ich in einer alten Kiste gefunden.«
    Sie schnüffelte. »Das riecht nicht nach Mottenkugeln. Sieht nagelneu aus.«
    »O nein«, sagte er hastig. Er stand steif und unruhig da, während sie sein Kostüm musterte.
    »Wir sind hier nicht im Operettentheater«, sagte sie.
    »Darf man sich denn keinen Spaß gönnen?«
    »Du hast nie was anderes getan.« Sie knallte die Ofentür zu. »Gott weiß, während ich zu Hause saß und strickte, warst du unten im Laden und geleitetest die Damen hinein und hinaus.«
    Er ließ sich nicht beirren. »Cora«, er sah tief in den knisternden Strohhut hinein, »wäre es nicht nett, wenn wir einen Spaziergang machten, so wie früher – du mit deinem seidenen Sonnenschirm und deinem langen Schleppenkleid –, auf drahtbeinigen Stühlen in der

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