Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Medusa

Medusa

Titel: Medusa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
Vom Netzwerk:
nicht reagierte. Hätte sie gewusst, was er vorhatte, hätte sie die Kugel gewiss zurückgezogen.
    Kore schloss die Augen und verharrte eine kurze Zeit mit einem Ausdruck im Gesicht, den Hannah als pure Glückseligkeit deutete. Dann zog er seine Hand fort, ließ sich zurück auf sein Lager fallen und blickte sie an. Sie sah ihm an, dass ihn das Erlebnis tief berührt hatte. Der entspannte Ausdruck in seinem Gesicht war tiefer Besorgnis gewichen. »Haben Sie den Stein jemals selbst berührt?« Die Frage kam so unvermutet, dass Hannah nicht in der Lage war, ein umfassendes Geständnis abzuliefern. »Nein«, war alles, was sie stammeln konnte.
    »Ich … ich hatte Angst, was er mit mir machen würde.« Sie senkte den Kopf, beschämt darüber, dass sie, als einzige Beteiligte der Expedition, im Grunde gar nicht wusste, wovon sie sprach.
    »Ich kann Ihre Angst nachvollziehen. Doch irgendwann wird der Zeitpunkt kommen, wo Sie ihn berühren müssen. Und Sie werden ihn berühren, so viel ist sicher.« Kore schien Verständnis für ihre Vorsicht aufzubringen, doch seine Worte lösten eine dunkle Vorahnung in ihr aus, und ihr wurde klar, wie Recht er hatte.
    Der Targi stand auf, ging in den hinteren Teil seiner Höhle und kehrte mit einem uralten, in Leder geschlagenen Buch zurück.
    »Ich muss Ihnen etwas zeigen.« Er schlug das Buch auf und Hannah sah, dass es sich um eine uralte Ausgabe des Korans handelte. Sie hatte ein solch edles Exemplar noch nie zuvor gesehen. Staub und Sand rieselten vom Einband, als Kore den schweren Deckel öffnete. Mit äußerster Vorsicht und Konzentration begann er zu blättern. Das Buch war von Hand geschrieben und mit farbigen Symbolen verziert worden. Nach kurzer Zeit schien er gefunden zu haben, was er suchte. Er drehte das Buch herum, so dass Hannah und Chris gut sehen konnten, und legte seinen rissigen Finger auf eine bestimmte Abbildung. Obwohl im Islam figürliche Darstellungen untersagt waren, ließ sich aus dem Wirrwarr von Linien und Flächen deutlich eine Form herauslesen. Hannah hielt den Atem an. Es war der Umriss eines Kopfes, aus dessen Schädeldecke schlangenartige Auswüchse entsprangen. Auf seiner Stirn aber prangte deutlich und unverkennbar ein einzelnes Auge. Kore nickte, als er Hannahs Überraschung bemerkte.
    »Das allsehende Auge Allahs«, murmelte er mit einer Stimme, die sein wahres Alter durchklingen ließ. »Es weint um die Menschheit.« Damit deutete er auf die blauen Tränen, die aus dem Auge flossen. »Sie haben es gefunden, so, wie es der Prophet vor vielen hundert Jahren prophezeit hat. Zusammen mit seinem Erscheinen wurde eine große Finsternis vorhergesagt, die die Menschheit in den Untergang treiben und letztlich vom Antlitz der Welt tilgen wird. Dieses Buch ist die Abschrift einer Ausgabe, die es heute nicht mehr gibt. Sie ist Hunderte von Jahren alt und seit vielen, vielen Generationen im Besitz meiner Familie, so lange, dass dieses Buch und diese Abbildung in Vergessenheit geraten sind. Sie werden sie heute in keinem modernen Koran mehr finden.«
    Er klappte das Buch zu und stellte es wieder zurück an seinen Platz. Als er wieder Platz nahm, wirkte seine Miene fest und entschlossen. »Uns Sterblichen steht es zwar nicht zu, Dinge ändern zu wollen, die vor langer Zeit vorausgesagt wurden, aber in diesem Fall ist es etwas anderes. Was vergessen war, soll auch vergessen bleiben. Wir dürfen nicht zulassen, dass das Auge in die Hände Durands fällt. Ich werde Ihnen helfen, aber nur unter einer Bedingung.«
    »Was verlangen Sie?«
    Er lächelte, und Hannah sah, wie der Schalk in seinen Augen aufblitzte. »Genau genommen sind es drei Bedingungen. Erstens: Sie müssen dafür sorgen, dass das Auge unversehrt bleibt, auf dass künftige Generationen die Chance haben, die Worte Allahs zu entschlüsseln. Zweitens: Sie müssen dafür sorgen, dass der Stein wieder in Vergessenheit gerät. Die Versuchung, die er verkörpert, ist zu groß, als dass die Menschen friedlich damit umgingen. Es würde zum Streit und zum Krieg kommen. Nein, der alte Zustand muss wiederhergestellt werden. So, wie er war, ehe Sie die Ruhe gestört haben.«
    Chris musterte den alten Tuareg mit einem kritischen Blick.
    »Und die dritte Bedingung?«
    Kore lächelte verschmitzt. »Hannah wird es Ihnen sagen können. Sie weiß, wovon ich rede.«
    Hannah nahm einen letzten Schluck Tee, um sich Mut zu machen. »Ich werde das Auge berühren müssen, als letzter Mensch für die nächsten tausend Jahre.«

Weitere Kostenlose Bücher