Meer ohne Strand
schon, bei deinem Lover«,
Sie boxte ihn in die Seite, grinsend. Sagte,
»Oder wir fliegen zusammen nach Europa. Oder nein, wir kaufen uns ein Boot und segeln nach Tahiti«,
Nach Bali, Celebes, wohin auch immer. Als wäre die Zukunft offen: ein Buch ohne Schluß, einmal hielten sie an einem Diner. Wo jemand sie einlud. Ein Uhrensammler, er wohnte in einem heruntergekommenen Häuschen irgendwo auf dem Land. Er nahm sie in seinem Auto mit: Pick-up mit Vierradantrieb, er war ungefähr fünfzig. Hatte keine Frau, keine Kinder. Kochte Tee für sie: grünen Tee, schwarzen Tee, sie saßen auf dem Sofa und knabberten Vollkornkekse. Versuchten, Maurice von den Uhren fernzuhalten: Wanduhren Kuckucksuhren Taschenuhren Standuhren, der Besitzer erklärte ihnen jedes einzelne Stück. Die Uhren begleiteten ihn mit ihrem Ticken. Unterbrachen ihn, manche schlugen jede Viertelstunde. Andere schlugen nur jede halbe, jede ganze Stunde, sie gingen nicht zeitgleich. Gingen vor oder nach: gingen alle falsch, füllten die Wohnung mit ihrem Ticken, ihren Glockenspielen, ihren hallenden Gongs. Manche Uhren schwiegen.
Hier endete es.
Im Haus des Uhrensammlers: Dies war die letzte Erinnerung, weiter kam sie niemals, der Schmerz in ihrem Kopf war ein gefangenes Tier. Das ihr die Schädeldecke aufsprengen wollte, um sich zu befreien, die Trauer war ein schwarzes Tuch in Mund und Magen. Das sie erstickte: Er hatte sie im Stich gelassen.
Nicht sie war gegangen, sondern Jacques. Es war einVerrat. Den sie von jedem anderen eher hätte hinnehmen wollen, er hatte sie zurückgelassen im Schnee, schwer verletzt, einmal sagte sie das zu Robert.
Robert beugte sich vor. Versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen, Sina, sagte er. Sina, erinnerst du dich denn,
Sie sagte: Ich nicht. Aber du. Du hast mir das doch erzählt. Du hast gesagt, daß er abgehauen ist mit dem Kind, irgendwo raus in die Dunkelheit,
Nun gab es nichts mehr: nur einen blauen Strich auf einer Karte, die sie nicht mehr besaß, sie mußte von vorn beginnen und immer wieder von vorn, sie hatte längst keine Lust mehr. Sie wäre gern gestorben: Aber Robert ließ es nicht zu.
Verließ sie nie. War immer bei ihr. Las ihr vor, kaufte CDs für sie: Mozart, Brahms. Tschaikowsky: Ballettmusik, sie erinnerte sich, sie hatte dies schon einmal tun müssen. Hatte schon früher einmal ihrem Körper Bewegungen befohlen, ihn die Details von Bewegungen lernen lassen: Pirouetten, Arabesquen. Plies, Développés, sobald man sie zu beherrschen glaubte, fühlten sie sich wundervoll an, unabhängig davon, wie sie aussahen, ihre Zehen schmerzten.
Die fehlenden Zehen: die Stelle, wo sie gewesen waren, Robert ging manchmal einkaufen. Dann überlegte sie, ob sie sich jetzt umbringen könnte. Mühte sich mit ihren Krücken von Zimmer zu Zimmer auf der Suche nach einer Waffe, vielleicht konnte sie ihre Schmerzmittel überdosieren? Aber es würde zu lange dauern, bis die Tabletten wirkten, vielleicht konnte sie Rasierklingen finden, oben in seinem Bad. Oder sie hätte sich auch von einem der Decks hinabstürzen, sich den Hals brechen können:wenn sie es geschafft hätte, die Treppen zu erklimmen, über die Brüstung zu klettern, sie brachte es nicht fertig. Brachte es nicht übers Herz: Robert ihre blutende Leiche auf den Teppich zu legen. Wenn er nach Hause kam, brachte er Pizza mit.
Brachte chinesisches Take out mit, Quarze für Sina aus Jeremys Zen-Laden, er rief ihren Namen schon an der Tür. Beobachtete ihr Gesicht, wenn er ihr seine Geschenke reichte, sie hielt die Kristalle jedesmal lange in der Hand. Befühlte ihre Struktur, mit geschlossenen Augen, er konnte sich nicht vorstellen, was in ihr geschah. Er kaufte Kerzen. Kaufte einen Leuchter für die Kerzen, er las ihr vor, meistens Gedichte. Suchte die alten Kassetten hervor, die Julia ihm geschenkt hatte, während sie zuhörte, wurde sie ganz still. Ihre Stille belebte das Haus. Das sich um sie füllte, die Regale füllten sich. Die Meter und Meter leerer Regale, das Haus begann um sie zu leben: Es war ihr Haus. Das Haus, das Robert Brauer geschaffen hatte, ihre Anwesenheit ließ es für ihn wieder lebendig werden wie damals, als er daran gearbeitet hatte, gegen Mittag erwärmte die Frühlingssonne das Wohnzimmer so stark, daß er die Glastüren öffnen konnte. Sie saß dann in ihrem Sessel und blickte aufs Meer. Etwas in ihr entzündete sich.
Loderte auf, brannte. Erlosch, ließ sie erschöpft zurück, sie war wundervoll, wenn ihr Gesicht plötzlich
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