Meeresblau
Tatsache, dass jeder es zu genießen schien, mit ihm zusammenzuarbeiten? Vom abgebrühtesten Wissenschaftler bis zum unerfahrensten Studenten. Vielleicht war es seine unkomplizierte, ruhige Art, die dafür sorgte. Vielleicht auch ein Stück weit Sirenenzauber. Worin auch immer der Grund für die Sympathien lag, die ihm entgegenflogen, sie freute sich darüber. Doch keine Freude dieser Welt konnte den Schatten erhellen, der über ihr hing.
Leise legte sie sich neben ihn und sog den Geruch seiner Haut ein. Endlich Ruhe. Lange würde sie nicht andauern, denn die nächste Besprechung stand in einer Stunde an. Ganz zu schweigen von der Silvesterfeier.
Von fern waren das Lärmen der Mannschaft und das Quietschen eines Kranes zu hören. Sie betrachtete Christopher, bewunderte sein friedvolles Gesicht, das sie eine Ewigkeit hätte ansehen können und streichelte sein Haar, das sich in Wellen auf das Kissen ergoss. Sein Atem ging ruhig, alles schien in Ordnung zu sein. Eine Weile ließ sie sich vom sanften Auf und Ab seines Brustkorbs einlullen, doch der kalte Klumpen in ihrem Herzen hielt sich hartnäckig.
„Etwas habe ich dir nicht gesagt“, flüsterte sie. „Ich konnte praktisch dabei zusehen, wie deine Blutzellen sich veränderten. Nicht alle besaßen die Struktur, von der ich dir erzählt habe. Aber alle, die sie nicht besaßen, nahmen sie nach und nach an. Es ging schnell, verstehst du? Verdammt schnell. Und du weißt, was das bedeutet. Es ist vorbei. Vielleicht morgen, vielleicht nächste Woche. Aber deine Zeit hier läuft ab, und wir beide müssen damit leben.“
Ihre Augen brannten. Sie lehnte ihre Stirn gegen seine und wünschte sich, das Selbstmordprogramm seiner Menschlichkeit aufhalten zu können. Aber selbst wenn sie die Möglichkeit hätte, erwarb sie damit nicht das Recht, es zu tun. Das hier war nicht mehr seine Welt. Er würde sich nicht mehr den Menschen zugehörig fühlen. Nicht in dem Maße, um glücklich zu werden.
„Ich halte dich nicht fest“, sagte sie leise. „Ich liebe dich viel zu sehr dafür.“
Innerlich zerriss es sie bei dem Gedanken, ihn gehen lassen zu müssen, doch wenn es so weit war, musste sie es zulassen. Maya streckte sich neben ihm aus und biss sich auf die Lippe, um ihr Schluchzen zu unterdrücken. Für eine Weile verschwand die Realität in Bedeutungslosigkeit. Die Welt hielt an und ließ sie aussteigen, wenn auch nur für flüchtige Momente. Denn bald wachte er auf und sah sie an.
„Du hast geweint.“ Mit dem Daumen wischte er ihr eine Träne von der Wange.
„Ja.“ Es ergab keinen Sinn, es zu verheimlichen. Er wusste es. Er wusste, was geschehen würde. „Weil ich Angst habe.“
Sein Lächeln war bitter. Als er sie stumm in seine Arme schloss, spürte sie die unausgesprochene Antwort.
Die habe ich auch.
Schweigend lagen sie aneinandergeschmiegt da und lauschten dem Atem des anderen. Maya schwebte in wohltuender Schwärze, die den Gedanken an den drohenden Verlust erträglicher machte. Sie wünschte, für den Rest ihres Daseins so liegen zu bleiben, doch dann ließ eine laute Stimme sie hochzucken. Der gnädige Schleier vor ihrem Bewusstsein wurde zerrissen.
„Maya? Bist du da?“
Das war Alan, und er klang wie eine Gouvernante kurz vor dem Donnerwetter.
„Komm rein.“ Sie setzte sich auf die Bettkante und rieb sich die Augen. Wie lange hatte sie hier gelegen? Sie musste zwischendurch eingeschlafen sein, denn den Geräuschen nach zu urteilen hatte die Mannschaft bereits mit der Feier begonnen.
„Hi, Chris.“ Alan setzte zu Mayas Verblüffung ein strahlendes Lächeln auf. „Geht es dir gut?“
„Ja. Warum?“
„Wirklich?“
Der Blick des Schiffsarztes war eigenartig. Nein, korrigierte sie sich, er war eindeutig. Sie kannte diesen Mistkerl – er wusste es.Verdammt. Maya verspürte den heißen Schauder der Ungläubigkeit, gefolgt vom eisigen Hauch der Erkenntnis. Wie auch immer er es angestellt hatte, er wusste es. Fieberhaft ging sie in Gedanken ihre Löschaktion durch. Sie hatte alles ausradiert. Definitiv. Oder etwa doch nicht?
„Nur so.“ Alans Unschuldsmiene scheiterte kläglich. „An deiner Stelle würde ich schleunigst hochgehen. Wenn sich die Meute erst mal auf das Grillbuffet stürzt, bleiben nur noch Krümel übrig. In dieser Hinsicht sind selbst Professoren und Doktoren wie Heuschrecken.“ Seine freundliche Miene verwandelte sich in die eines gestrengen Oberstudienrates, als er sich an sie richtete. „Und was uns beide betrifft,
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