Meeresblau
Harpune ist naturgemäß mit Widerhaken bestückt, was die Sache nicht leicht macht. Normalerweise soll das, was damit getroffen wird, ja auch gegessen und nicht verarztet werden.“
„Alan“, keuchte Maya.
„Verzeihung. Ich kenne seine Anatomie nicht, deshalb besteht die Gefahr, dass ich …“
„… eine Arterie treffe?“ führte Jeanne den Satz zu Ende. Sie kniete hinter Maya und versuchte krampfhaft, ihre Fassung zu wahren. „Wolltest du das sagen?“
„Korrekt. Eigentlich müsste er in ein Krankenhaus, aber das ist in diesem speziellen Fall unmöglich, es sei denn, wir wollen ein paar hysterische Anfälle riskieren. Also muss ich es hier und jetzt mit meinen begrenzten Möglichkeiten versuchen.“
„Schaffst du das?“, wisperte Maya.
„Klar. Zuerst muss ich die Wunde erweitern, damit ich die Löffel reinschieben kann.“
„Was für Löffel?“ Jeanne erbleichte.
„Damit meine ich ein Instrument, das ich über die Haken schiebe, damit ich die Harpune herausziehen kann, ohne noch mehr Unheil anzurichten.“
Das Mädchen blickte skeptisch. „Ist das die übliche Methode?“
„Es ist meine Methode. Okay, dann wollen wir mal. Halt ihn am besten fest, Maya.“
„Willst du ihn vorher nicht …“
„Nein. Erstens schläft er sowieso und wird das vermutlich noch eine ganze Weile tun. Zweitens hat mir Jeanne von Christophers Allergie gegen alle möglichen Chemikalien erzählt. Wenn wir Pech haben, lässt ihn ein Anästhetikum völlig aus den Latschen kippen.“
„Blödsinn“, fauchte Maya. „Jetzt mach schon. Als ich ihm letztens was verpasst habe, hat er es prima vertragen.“
Den Rest ihres Gedankens behielt sie besser für sich. Im Nachhinein konnte sie nur von Glück reden, dass es genau so gewesen war. Ebenso gut hätte sie ihn mit der Chemieladung hoffnungslos ausknocken können.
„Von mir aus.“ Alan kramte in seiner Tasche, tat das Nötige und starrte, als er die Lokalanästhesie durchgeführt hatte, eine Weile prüfend auf seinen Patienten hinab.
„Er hat es überlebt. Sehr gut. Aber sag mal, wo ist eigentlich sein …“ Der Schiffsarzt reckte den Hals. „Ich meine, er muss doch einen haben, oder? Siehst du irgendwo eine Hauttasche oder so was? Wie bei Delfinen und Walen?“
„Alan!“ Maya war kurz davor, ihm eine Ohrfeige zu verpassen. „Hast du sie noch alle?“
„Tut mir leid. Ich lege dann mal los.“
„Das wäre nett.“ Vorsichtig ergriff sie Christophers Schultern und drehte ihn herum, sodass sein Gewicht auf ihren Schenkeln ruhte. „Alles wird gut“, flüsterte sie ihm zu. „Alan macht das schon.“
„Fertig?“ Er fischte ein silbernes Päckchen aus dem Rucksack.
„Fertig“, bestätigte Maya.
„Ach ja, falls er doch wach wird und irgendwie Panik schieben sollte, halt ihn um Himmels ruhig. Wenn ich das treffe, was man bei Menschen Oberschenkelarterie nennt, dann verblutet er uns innerhalb von dreißig Sekunden und ich kann nicht das Geringste dagegen tun. Verstanden? Zur Not zieh ihm eins über den Schädel. Aber frag mich vorher, wohin genau du hauen musst. So einfach wie im Film ist es nämlich nicht.“
Jetzt war es Jeanne, die entrüstet auffuhr. „Bitte mach deine Arbeit und hör auf, Witze zu reißen.“
„Schon gut, schon gut. Das ist eben meine Art, mit so was umzugehen.“ Alan desinfizierte die Haut um die Eintrittswunde, packte eine spitze Skalpellklinge samt passendem Griff aus und steckte beides zusammen.
„Kann ich?“ Vor der Kulisse des düsteren Strandes war das Bild, das Alan mit der Klinge bewaffnet bot, geradezu makaber.
„Jetzt mach schon.“ Maya legte ihre Hände auf Christophers Brust und beugte sich vor, bis ihre Lippen seine Stirn berührten. Im Geiste fuhr sie mit ihren Gebeten fort. Es waren alte Gebete, die aus White Elks Überlieferung stammten. Sie hatte nie an ihre Wirkung geglaubt, doch jetzt war sie sich nicht mehr sicher. Selbst wenn es nichts einbrachte, haftete diesen Worten etwas Tröstliches an. „Aber mach schnell.“
„Ich gebe mein Bestes.“
Alan setzte sein hoch konzentriertes Arztgesicht auf. Behutsam legte er seine freie Hand auf Christophers Hüfte und setzte die Klinge dort an, wo die Harpune eingedrungen war. Mühelos glitt sie in das Fleisch, was weitaus weniger grausam aussah, als sie befürchtet hatte. Als Alan die Klinge bis zum Anschlag versenkt hatte, drehte er sie halb herum und vollführte einige schneidende Bewegungen.
„Perfekt.“ Vorsichtig zog er das Skalpell wieder heraus
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