Meeresblau
Opfer meiner Mutter. Ich hatte schon immer eine seltsame Beziehung zu diesem Stein. Als Kind saß ich stundenlang dort oben und starrte die Zeichnung an.“
„Kannst du mir den Stein zeigen?“
„Nächstes Mal.“ Er umfing ihre Hand und strich mit dem Daumen über die Innenfläche. Diese Berührung, obwohl nur zart und flüchtig, versetzte Maya in einen Taumel verwirrter Entzückung.
„Deine Mutter verwandelte sich zur Zeit der Pikten?“, fragte sie. „Das ist ewig her.“
„Ja.“
Sie fasste sich an die Stirn. Wie sollte ihr Verstand das unbeschadet überstehen? „Also beginnt ihr euer Leben generell als Menschen? Ich meine unter Menschen?“
„Soweit ich gehört habe.“
„Und ihr tötet unseresgleichen?“
„Wir locken Seelen ins Meer, um ihre Sehnsucht zu erfüllen. Niemand wird willkürlich getötet, es geschieht nur, wenn es das vorherbestimmte Schicksal desjenigen ist.“
„Hat die Frau dir das gesagt?“
„Ja, und es leuchtet mir ein. Manche Seelen verzehren sich nach dem Meer. Sie kommen nicht davon los und brauchen es wie eine Droge. Solche Menschen sind es, die von uns geholt werden. Und ich habe Angst, dass …“
Er blieb stehen und sah sie an. Die Art, wie er nach Worten suchte, rührte sie auf seltsame Weise. „Du hast Angst, dass es mich auch erwischt?“
„Ja.“ Christopher seufzte. „Die habe ich.“
„Hör auf.“ Maya legte eine Hand auf seine Wange. „Ich kann auf mich aufpassen. Wir mögen uns kaum kennen, aber ich weiß, dass du mir nie etwas antun würdest. Du bist stark. Stärker als irgendwelche kryptischen Mächte.“ Was redete sie da eigentlich? Ja, sie kannten sich kaum. Selbst, wenn er ein gewöhnlicher Mensch gewesen wäre – wie konnte sie behaupten, ihn auch nur ansatzweise zu durchschauen? Und doch wollte sie ihm bedeuten, dass sie sich nach seiner Nähe sehnte. Ganz gleich, was er war. Ob er Seelen raubte oder nicht.
„Ich würde dir nie absichtlich wehtun“, sagte Christopher. „Aber ich würde lügen, wenn ich behaupte, ich könnte die andere Seite meines Seins kontrollieren.“
Maya nickte. Die Wissenschaftlerin in ihr zankte und zeterte und wurde doch beiseitegedrängt. Hier half sie nicht weiter. „Damit muss ich erst mal klarkommen“, murmelte sie. „Das ist, als wenn … tut mir leid, dazu fällt mir kein Vergleich ein.“
„Glaube mir, ich fühle mich genauso überfordert wie du.“ Hand in Hand liefen sie weiter, und Maya schmiegte sich an ihn, als wäre es das Natürlichste der Welt. „Bis vor Kurzem dachte auch ich in rein wissenschaftlichen Bahnen. Aber jetzt hilft mir diese Vorgehensweise nicht weiter.“
„Ein Paradigmenwechsel der heftigsten Form.“ Maya seufzte. „Mir fällt da ein Witz ein. Sitzen eine Meerjungfrau, ein Einhorn und ein Zentaur im Restaurant. Beschwert sich das Einhorn: ‚Was für eine Unverschämtheit. Die Kellner tun gerade so, als gäbe es uns gar nicht.‘“
Christopher prustete, anscheinend nicht weniger zerstreut als sie. „Vor gar nicht so langer Zeit hielt ich in London eine Gastvorlesung über den weltweit verbreiteten Mythos der Sirenen. Und jetzt? Jetzt bin ich selbst eine. Was würden meine Studenten dazu sagen?“
„Sie wären hin und weg.“ Maya fühlte sich auf kopfüberhängende Weise so euphorisch, dass sie am liebsten laut gelacht hätte. „Aber in einer Sache hat dich die Frau belogen.“
„Und die wäre?“
„Dein Vater hat dich geliebt. Er gab dich nur weg, weil ihm keine Wahl blieb.“
Sein Lächeln gefror. „Vielleicht.“
„Kanntest du ihn?“
Jetzt blieb er stehen. Sein Blick war dunkel vor Wehmut. „Ich bin ihm als Kind oft begegnet. Er starrte mich an und sah todtraurig aus.“
Als Maya sah, wie aufgewühlt er war, schloss sie ihn wie selbstverständlich in ihre Arme. „Weil er dich geliebt hat.“
Christopher nickte. Die Art, wie er sich zitternd an sie presste, war schmerzhaft und herrlich zugleich. Es zeigte ihr, dass er sie in diesem Moment ebenso brauchte wie sie ihn.
„Er weinte wegen mir. Ja, ich glaube, er hat mich geliebt. Aber warum habe ich es nicht gespürt? Warum habe ich meinen Vater angesehen und wusste nicht, wer er war?“
„Du warst ein Kind und hattest eine Familie. Die ganzen Gerüchte über Ahnungen und instinktives Wissen halte ich für übertrieben. Wann ist dir klar geworden, dass du anders bist?“
„Vor einigen Monaten, als die Visionen kamen.“
„Was für Visionen?“ Maya war nicht überrascht. Vermutlich gab es
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