Meeresblau
raubt Menschen die Seele. Sehe ich seelenlos aus? Hast du mir irgendwas geraubt?“
„Nein“, sagte er und seine Mundwinkel zuckten. „Ich glaube nicht.“
„Gut, also weiter. Ihr seid im Begriff, auszusterben, und die letzten Überlebenden eurer Art verbergen sich fernab irgendwo. Deine Mutter war kein Mensch, also bist du zur Hälfte etwas anderes.“
„Ein Halbblut wie du“, erwiderte er liebevoll.
„Stimmt.“ Dieser Gedanke besaß etwas Schönes, das ihre Konfusion durchdrang. Maya ließ ihn sich auf der Zunge zergehen, bevor sie fortfuhr. „Soweit schon mal die Punkte, derer ich mir sicher bin. Der Rest ist Rätselraten. Möglicherweise war sie eine Art Meerjungfrau? Eine Sirene?“
„Beides.“
Christophers Gesicht wurde emotionslos. Er blickte auf ein vermoderndes Gebilde aus Holz, das unweit von ihnen aus dem Sand einer Düne ragte. Maya durchlief ein heißkalter Schauder vom Nacken bis zu den Zehenspitzen, als sie ein Boot erkannte. Elemente und Gezeiten hatten es fast zerstört, der Rumpf besaß das Aussehen eines kaputten Skeletts. Noch immer erkannte man, dass es schmal und elegant gewesen sein musste. Wie das Kanu aus ihrem Traum.
„Du meinst also …“ Ihre Stimme klang rau und kratzig. „Eine Meerjungfrau? So richtig mit Fischschwanz?“
„Ich habe es gesehen. Als ich zu ihr ins Wasser ging, verwandelte sie sich.“ Er stieß einen Pfiff aus. Vom Kiefernwald trabte der Hund heran und verharrte an seiner Seite. „Sie wollte, dass ich mit ihr gehe. Oder besser gesagt, mit ihr schwimme.“
„Dann bestand niemals die Gefahr, dass sie ertrinkt?“
„Nein. Wir können nicht ertrinken.“
„Aha.“ Sie legte eine Hand auf ihren Brustkorb und atmete tief durch. Sie musste ruhig bleiben. Es irgendwie schaffen, das zu verarbeiten. Ihre Gedanken fuhren Achterbahn, während sie den sandigen Hang hinaufstapfte. „Ihr atmet also unter Wasser“, dachte sie laut. „Es ist euch völlig schnuppe, wenn es gotterbärmlich kalt ist und euch wachsen Fischschwänze. Außerdem seid ihr unsterblich, sofern man euch nicht gewaltsam massakriert oder vergiftet, und eigentlich dürftest du gar nicht mehr hier sein, sondern müsstest deinesgleichen retten und Seelen jagen.“
„Hm.“ Christopher wiegte den Kopf hin und her. „Genauso ist es, bis auf die Sache mit dem Seelenjagen. Das klingt reißerisch.“
„Was hat sie dir erzählt, bevor ich euch belauscht habe?“
„Eine Geschichte. Über die erste Seele, die meine Mutter genommen hat, nachdem sie sich verwandelte.“
„Verwandelt? War sie vorher ein Mensch wie du?“
„Ja. Obwohl ich glaube, dass das Menschliche in unserem Fall nur eine Maske ist. Die Frau erzählte, dass die Kinder unseres Volkes an Land aufwachsen, bevor ihre Körper sich verändern und an das Wasser anpassen.“
„Bevor ihnen Fischschwänze wachsen.“
Er nickte. „Diese Sitte hat ihre Wurzeln in uralten Zeiten. Damals lebte das Meervolk mit dem Landvolk noch Seite an Seiteund man respektierte einander. Aber es gab schon seit Jahrzehnten kein Kind mehr. Vielleicht sogar seit Jahrhunderten.“
„Weil eure Rasse geschwächt wurde?“
„Alles kommt und geht. In dieser Welt gibt es wohl keinen Platz mehr für Legenden.“
„Was war das für eine Geschichte, die sie dir erzählt hat?“
Er lächelte müde. „Damals, als die Insel noch von den Pikten beherrscht wurde, lief ein Schiff in der Nacht auf das Riff. Alle ertranken oder wurden an den scharfen Felsen zerschmettert bis auf einen Mann namens Mearran. Er rettete sich an das Ufer, fand eine neue Heimat in dem Dorf, das früher hier stand, und nahm sich eine Frau. Eines Nachts, als er nicht schlafen konnte, ging er an den Strand und fand eine schöne, nackte Fremde, die auf den Felsen saß und sang. Sie verführte ihn, raubte ihm den Verstand und die Seele, bis er sich von ihr in die Tiefe ziehen ließ. Erst Tage später gab das Meer seinen toten Körper wieder frei. Man begrub ihn dort oben.“ Christopher deutete nach vorn. „Auf der Klippe, die aussieht wie eine Haifischflosse.“
Ihr blieb jedes Wort im Halse stecken, überwältigt von der Magie des Augenblicks. Jenseits der Bucht, in der die Fischkutter lagen, erhob sich eine mächtige Formation aus Stein in den Himmel. Nebelgrau und elegant geschwungen, vom Dunst der Ferne fast verschluckt.
„Es gibt dort oben einen Symbolstein, in den eine Meerjungfrau eingeritzt ist“, erzählte Christopher. „Unter ihm liegt Mearran begraben. Das erste
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