Meeresblau
schier um den Verstand.
„Zieh das hier an.“ Er hielt ihr ein Bündel entgegen. „Deine Sachen sind noch ziemlich nass.“
Sie war zu benommen, um Einspruch zu erheben. Sämtliche Gräten taten ihr weh und zwar in einem Maße, dass sie bezweifelte, überhaupt vernünftig gehen zu können. Erst ertrinken, dann Sex. Was für eine Nacht.
Maya nahm die Kleidung entgegen und unterzog sie einer Musterung. Sowohl das Hemd als auch die Hose muteten alles andere als einladend an und stammten offenbar aus der Hinterlassenschaft des früheren Eigentümers dieser Hütte. Christophers Vater, erinnerte sie sich. Der Fischer, der sich in eine Frau aus dem Meer verliebt und sein Ende in der Verzweiflung gefunden hatte. Trotz Schmutz und modrigem Geruch schlüpfte sie anstandslos in die Sachen.
„Wie geht es dir?“ Er ging neben Finn in die Hocke und legte einen Arm um den Hund. „Alles in Ordnung?“
„Ich glaube schon.“ Vorsichtig stand sie auf. Ihre Beine taten weh, waren aber funktionstüchtig. Nur widerwillig ließ sie den Gedanken an sich heran, dass es Zeit war zu gehen. Die Rückkehr in die Wirklichkeit brachte nicht nur den Abschied, sondern auch die Notwendigkeit, über das Geschehene nachzudenken.
„Wir müssen zurück“, sagte Christopher. „Jeanne wird mich schon vermissen.“
Er starrte auf das Münzenarmband, das er in der Hand hielt. Fahles Sonnenlicht fiel durch die Bretter der Hüttenwände, spielte auf dem Metall und hauchte seidigen Schimmer auf sein Profil. Es war, als hätte ein Künstler mit zarten Pinselstrichen das Antlitz einer göttlichen Statue in die Dämmerung gemalt, deren Gedanken niemand erfassen und hinter deren undurchschaubaren Zügen so viel mehr verborgen lag, als Mayas Verstand verarbeiten konnte.
Vermutlich war er kein Mensch. Aber was zum Teufel war er dann?
„Großer Geist.“ Sie rieb sich die Augen. „Ich habe mich noch nie so seltsam gefühlt. Wusstest du auch schon mal nicht, ob du wach bist oder träumst?“
Er antwortete nichts, doch seinem Gesicht war zu entnehmen, wie aufgewühlt er war. Maya pflückte ihre nasse Kleidung vom Sessel und klemmte sie sich unter den Arm. Zuletzt stieg sie in die viel zu großen Schuhe, die er bereitgestellt hatte. Darüber, wie oft der ehemalige Eigentümer sie vollgeschwitzt hatte, dachte sie besser nicht nach. Fein, die Realität lag also wieder vor ihr. Fand sie diesen Umstand erstrebenswert oder nicht? Zögernd öffnete sie die Tür und atmete ein paar Mal tief durch, um sich bewusst zu machen, dass dies hier die Wirklichkeit war. Raureif funkelte auf den Halmen des Strandhafers. Der Sturm war abgeflaut, die Brandung sanft. Möwengeschrei lag in der klaren Morgenluft, begleitet vom Pfeifen der Seeschwalben.
Es wurde Zeit für ein klärendes Gespräch. Aber wo sollte sie anfangen? Stumm ging sie neben Christopher her, bis sie den Pfad zum Kiefernwäldchen erreichten. Dort beendete sie ihr Schweigen. „Du musst mir was erklären.“
Er gab etwas von sich, das wie ein Lachen klang. „Kann ich mir vorstellen. An was erinnerst du dich?“
„Belauscht habe ich alles ab der Geschichte über deine Eltern.“
„Du hast gelauscht?“ Es klang weder tadelnd noch überrascht. „Warum wundert mich das nicht?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Deswegen weiß ich, dass du irgendwie nicht …“
„Ja?“ Sein Gesicht war freundlich. Falls er Wut oder Trauer empfand, verbarg er sie perfekt. „Sag es einfach.“
„Du bist nicht normal.“
„Stimmt.“
Er ließ ein beängstigend schönes Lachen erklingen. Sie reagierte mit einer Gänsehaut, die ihren Körper vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen überzog, wie in der Nacht zuvor, als sie sich geliebt hatten. Vielleicht raubte er so menschliche Seelen. Durch den Zauber seiner Stimme. Sirenengeflüster.
Die Nähe, die sie miteinander geteilt hatten, ließ noch immer ein Feuer in ihrem Inneren brennen. Maya fühlte sich wund an gewissen, stark beanspruchten Körperstellen und wusste nicht, ob sie überglücklich oder völlig im Eimer war. Genau genommen war sie beides zugleich.
„Und was denkst du jetzt?“, fragte er.
„Ich weiß es nicht.“ Im Versuch, ihre Gedanken zu sammeln, holte sie tief Luft. „Du bist anders. Du hast mir das Leben gerettet und ich hatte in dieser Nacht den besten Sex meines Lebens.“ Ein Seitenblick auf sein Profil verriet ihr nichts, also plapperte sie weiter. „Laut der Frau ist das Meer dein Zuhause und deine Rasse, was immer ihr auch seid,
Weitere Kostenlose Bücher