Meeresblau
entgegenblickte. An eine vollgemüllte Zweizimmer-Wohnung gewöhnt, die ohne jeden Komfort auskam, fühlte sie sich angesichts der Noblesse dieses Heimes überfordert. Allein das Wohnzimmer war so groß wie ihre Wohnung im Gesamten. Ein Traum aus hellen Erdfarben, cremefarbenen Vorhängen und weichen Teppichen. Jede Kleinigkeit war farblich aufeinander abgestimmt, während sie in ihrem Kabuff einfach alles, was im Laufe der Jahre zusammengekommen war, wild kombiniert hatte.
„Schön, dass du hier bist.“ Jeanne stand auf und streckte ihr die Hand entgegen, wobei ihr eierschalenfarbenes Kleid im Licht der Kerzen glitzerte. Ihre rotgoldene Haarpracht war kompliziert aufgesteckt. „Ich hoffe, du fühlst dich wohl bei uns. Wir haben drei Tage nur geputzt, aufgeräumt, gekocht und gebacken.“
Maya antwortete mit einer höflichen Floskel, setzte sich neben Christopher an den Tisch und harrte der Dinge, die kommen würden. Das Weihnachtsgesteck passte, wie sollte es anders sein, perfekt zur cremefarbenen, mit winzigen Goldsternchen bestickten Decke, zum Porzellan mit dem Muschel-Muster, zu den weißgoldenen Leuchtern und den makellos gefalteten Servietten. Die beiden hatten ganze Arbeit geleistet. Beschämt dachte sie daran, dass sie, sofern sich Besuch ankündigte, Küchenrollenpapier als Servietten benutzte.
„Das sieht fantastisch aus.“ Wenigstens gab es nur eine Sorte Besteck und keine endlosen Reihen, durch die man sich durcharbeiten musste. „Und ich war schon stolz auf mein dreißig Zentimeter hohes Glitzer-Kunstbäumchen mit bunten Birnchen.“
„So eins hab ich auch.“ Jeannes Miene wurde ernst. „Wir freuen uns wirklich, dass du gekommen bist. Es ist das erste Weihnachten, das wir …“ Sie warf einen unsicheren Blick auf ihren Bruder, der ihn sanft lächelnd erwiderte. „Wir feiern das erste Mal allein Weihnachten. Ohne unsere Eltern.“
Maya biss sich vor Verlegenheit auf die Zunge. Was sollte sie darauf sagen? „Es tut mir leid. Ich weiß, wie schlimm sich so was anfühlt.“
Jeanne nickte und fragte nicht weiter nach, also war davon auszugehen, dass sie die Geschichte über Mayas Eltern bereits kannte. Eine Sache aber hatte sie Christopher nicht erzählt. Das schlimmste Weihnachten hatte sie erlebt, nachdem White Elk seiner Krankheit erlegen war. Wie ein Häufchen Elend hatte sie in dem blauen Holzhaus in der Wüste gehockt, stur auf die ferne Bergkette gestarrt und war fest davon überzeugt, dass ihr Leben zu Ende war. Das Schicksal indes hatte sie in eine andere Richtung gelenkt. Keine zwei Monate später war sie nach San Francisco gegangen, um ihr Studium zu beginnen. Irgendwie geht es immer weiter. Dieser Spruch umschrieb perfekt ihr Leben.
„Können wir jetzt?“, fragte Christopher. „Ich sterbe vor Hunger.“
Die folgenden Stunden verbrachten sie in wortkargem Genuss. Der Kaffee war köstlich, der Kuchen und die Kekse ebenfalls, und wenn sie zwischendurch ihren Blick zum Weihnachtsbaum schweifen ließ, unter dem ein Haufen Geschenke lag, fühlte sie sich nervös wie ein Kind. Sie dachte an die chaotische Terrasse ihres alten Hauses, auf der man so wunderbar sitzen und in die Wüste hinausblicken konnte. Sie dachte an den Staub, der alles mit einer dünnen Schicht bedeckt hatte, und an die Kaninchenkäuze, die ihre Bruthöhlen unter dem Haus gegraben hatten. Fast glaubte sie, wieder den Geruch Arizonas wahrzunehmen. Sand, Wüste und Staub. Heiße Erde, Kakteenblüten. Am herrlichsten hatte es gerochen, wenn Regen gefallen war. Sie vermisste diese Zeit. Und sie vermisste White Elk. Er wäre von Christopher begeistert gewesen. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie sich vorstellte, wie ihr Großvater ihn in die Wüste schleppte und als Erstes einem Willkommens-Ritual unterzog.
Sein Blick heftete sich auf sie. Sie erwiderte ihn, und alles, was sie umgab, zog sich in einen surrealen Nebel zurück. Melancholisch schwebten die Klänge der Klaviermusik über ihnen, erinnerten mal an wehende Schleier, mal an das Klagen ferner Stimmen. Sehnsucht fraß sich durch Körper und Geist. Sie wollte ihn spüren. Sie wollte das, was sie in jener Nacht wie durch den Schleier einer Betäubung genossen hatten, bei wachem Verstand erleben. Seine Lippen hoben sich zu einem Lächeln. Worte schienen durch ihren Geist zu schweben.
Heute Nacht gehörst du mir
.
Fast wäre ihr die Gabel entglitten, als sie sah, wie er das Eis von seinem Dessertlöffel ableckte. Sein Blick ruhte unablässig auf
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