Meeresblau
„Visionen, in denen Stimmen um meine Hilfe bitten. Ich sehe einen Tiefseegraben und ich sehe Wesen, die so sind wie ich. Sie sind der Grund, warum ich mich bei deinem Institut beworben habe.“
„Weil wir genau dorthin fahren, wo sie auf dich warten?“ Maya blickte stur geradeaus. „Heißt das, du verlässt mich, wenn wir da sind?“
„Niemals.“ Er sprach es so heftig aus, dass er sie zum Lächeln brachte. „Ich will dorthin, um ihnen zu helfen. Sind wir mal ehrlich, in erster Linie dient die Expedition dazu, nach neuen Energie- und Rohstoffquellen zu suchen, die man ausbeuten kann. Und zwar genau in der Gegend, die meiner Art als letztes Rückzugsgebiet dient. Ich muss sie vor der Entdeckung bewahren. Als der Mensch, der ich vorgebe zu sein, dürfte mir das am besten gelingen.“
„Du meinst als Dr. Christopher Jacobsen? Der jüngste Dozent in der Geschichte von St. Andrews, zu dem jeder respektvoll aufblickt? Und dem jeder glaubt, wenn er sagt, dass ein Meeresgebiet uninteressant ist?“
„So ist es. Das Versteckspiel wird schwer werden, wenn wir tatsächlich auf Manganknollenfelder treffen. Aber es ist zu schaffen.“
„Wir schicken Kameras in die Tiefe“, bemerkte Maya. „Wie stellst du dir die Rettung deiner Artgenossen vor?“
„Ich will für diese Geräte allein verantwortlich sein. Denkst du, du bekommst das hin? Meine Erfahrungen dürften mehr als ausreichend sein.“
„Sicher. Aber du solltest beachten, dass du erstens schlafen musst und zweitens das Filmmaterial regelmäßig vor versammelter Mannschaft ausgewertet wird. Falls du mit einem der Roboter also in eine Meerjungfrauen-Versammlung platzt, werden wir die Aufnahmen manipulieren müssen.“
„Kein Problem. Lass das meine Sorge sein.“
„Wunderbar.“ Sie seufzte theatralisch. „Ich habe einen Meermann an Bord, der kriminelle Anwandlungen zeigt. Dürfte spannend werden. Aber was machst du, wenn du schlafen musst?“
„Dann schlafe ich zur Not vor den Bildschirmen. Genau genommen brauche ich kaum noch Schlaf. Das scheint auch eine Nebenwirkung der Metamorphose zu sein.“
„Du brauchst kaum noch Schlaf, du bleibst praktisch ewig jung und dir liegt das Meer zu Füßen. Sag mal, könntest du mich vielleicht zu deinesgleichen machen?“
„Du meinst zu einem Fisch? Ich glaube nicht, dass das geht. Du verwechselst da gerade ein paar Fabelwesen miteinander.“
„Frag diese Frau, wie ich mich verwandeln kann, und dann verschwinden wir zusammen.“
Mayas Blick lag auf der im Morgenlicht glänzenden Fläche des Meeres. Er spürte ihr Sehnen wie einen schmerzenden Klumpen in seinem eigenen Geist.
Denke daran, dass wir dazu bestimmt sind, Seelen in das Meer zu locken
.
Wer uns liebt, der liebt den Tod. Wer uns begehrt, begehrt seinen eigenen Untergang
.
„Komm her.“ Abrupt zog er sie noch enger an sich. Niemals würde er zulassen, dass etwas ihr wehtat. Er konnte sie in sich spüren, diese gewaltige, schlafende Energie, die nur darauf wartete, geweckt zu werden. Allem würde er die Stirn bieten, wenn es darum ging, sie zu schützen. Maya legte ihren Kopf an seine Schulter, und während er behutsam seine Hand auf ihren Hinterkopf legte, beobachtete er die aufgewühlte See. Nach der in ihm summenden Energie greifend, stellte er sich vor, wie das Wasser ruhiger wurde. Eine Weile geschah nichts, doch der Schein trog. In ihm ballte sich etwas zusammen, eine Kraft, warm und sanft, die sich mit allem vereinte, was ihn umgab. Tatsächlich, die Wogen glätteten sich. Wellen und Brandung verloren an Kraft. Den Frieden, den er in Mayas Nähe empfand, kehrte er nach außen und ließ ihn eins werden mit den Elementen. Wind, Wasser und Erde, strömende, ineinander zerfließende Energie. Und plötzlich spürte er es wieder. Dieses wilde, herrliche Glücksgefühl, ausgelöst von dem Wissen, große Macht in sich entdeckt zu haben und sie nutzen zu können. Still wie ein Spiegel lag das Meer vor ihm. Makellos ruhig. Kein Lüftchen regte sich.
„Wow,“ flüsterte Maya und drehte sich in seiner Umarmung. „Sieh dir das an. Als wäre die Zeit stehen geblieben.“
Er lächelte, die Lippen auf ihre Stirn gelegt. Sich mit der allgegenwärtigen Energie des Lebens zu vereinen, fühlte sich gut an. Fast zu gut, denn es glich einem Rausch. Seinen Verstand davor zu schützen, von dieser Macht vernebelt zu werden, würde schwer werden.
„Warst du das?“ Maya blickte erschreckt zu ihm auf. „Hast du das eben getan? Chris, sag’s mir.
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