Meeresblau
dich?“
„Fantastisch.“ Er bemühte sich nicht, sein zweideutiges Lächeln zu kaschieren. Ein Blick in ihre Augen und er wusste, dass sie nichts dagegen hätte, die Geschehnisse der vergangenen Nacht hier fortzusetzen. Und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Neckisch schaute sie ihm über den Tassenrand in die Augen.
„Ich nehme mal an, du bist schon länger kein Meerjungmann mehr?“
Um ein Haar hätte Christopher seinen Kaffee ausgeprustet. „Nein. Tut mir leid. Ich verlor meine Unschuld im zarten Alter von siebzehn Jahren.“
Lächelnd zwirbelte sie eine Haarsträhne. Ihrer Haut entströmte noch immer der Duft nach Sex und entfachte einen Hunger, der durch kein Frühstück der Welt gestillt werden konnte.
„Du magst diese Frau nicht besonders, oder? Ich meine die Meerfrau.“
„Nein.“ Er zuckte mit den Schultern. Über irgendwelche Wesen abgesehen von Maya und Jeanne nachzudenken, erschien ihm überflüssig. „Sie sagt, sie ist die Schwester meiner Mutter und deshalb mir irgendwie nahe, aber sie hilft mir nicht weiter. Was ich will, interessiert sie nicht. Ihr geht es nur darum, in diesem Spiel zu gewinnen.“
„Glaubst du das wirklich?“
„Ich will nicht darüber nachdenken.“ Seine Erregung kühlte zu Beklommenheit ab. Die Frau aus dem Meer mochte aus Besitzdenken handeln, doch die Stimmen in seinen Visionen waren verzweifelt. Sie fürchteten sich. Wenn diese Wesen am Grund des Pazifischen Ozeans ihre letzte Zuflucht gefunden hatten, musste er alles tun, um sie zu schützen. Man würde Kameras in die Tiefe schicken, Messgeräte und Roboter. Was da auf ihn wartete, war keine leichte Aufgabe, doch er war bereit, sich ihr zu stellen.
„Viele alte schottische Geschichten handeln von Kindern, die aus dem Meer stammen“, sagte Maya. „Es gibt zahllose Legenden darüber, und sie alle enden gleich.“
„Die Kinder kehren ins Wasser zurück, um nie wieder gesehen zu werden.“ Orangerot spiegelte sich das Feuer in Mayas schwarzen Augen und überhauchte ihre Haut mit einem sinnlichen Spiel aus Licht und Schatten. „Mach dir keine Sorgen. Ich lasse dich nicht allein. Niemals. Es sind nur Geschichten.“
„Du weißt, dass es nicht nur Geschichten sind.“ In ihrem Blick lag etwas wie Verzweiflung. „Was, wenn …“
Er legte einen Finger auf ihre Lippen. „Du wolltest doch den Stein sehen. Jeanne ist eine ausgemachte Langschläferin. Wir haben noch viel Zeit.“
„Der Stein?“ Neugier verdrängte den dunklen Schatten über ihren Augen. „Der Meerjungfrauenstein? Gern.“
Synchron sprangen sie auf und lachten. Während Maya einen grünen Wollpullover anzog und die Lederjacke darüberstreifte,beließ er es bei seinem Hemd. Warum sollte er ihr gegenüber noch so tun, als ob er frieren würde? Er sah keinen Grund, seine Andersartigkeit vor dieser Frau zu verheimlichen. Ein wunderbares Gefühl.
Sie hob eine Augenbraue. „Heute Morgen Chuck Norris gefrühstückt oder was?“
„Kälte macht mir nichts aus.“
Sie sah ihn einen Moment an. Dann nickte sie verständnisvoll. „Ach so.“
Das Aroma des Meeres lag in der schneidend kalten Luft. Die Rufe der Möwen, der Wind auf seiner Haut und Mayas Lächeln, das er Ewigkeiten lang hätte anstarren wollen, all das erfüllte ihn mit schwerelosem Glück. Dies hier würde eine niemals verblassende Erinnerung werden, die selbst am Ende eines langen Lebens noch frisch war und in vergangene Zeiten entführte. Wenn er an einem Punkt angelangt war, an dem er nur noch zurückblickte, würde diese Erinnerung ihn glücklich und traurig zugleich machen.
Ihm war klar, dass es sein Schicksal sein würde, Maya altern zu sehen und selbst jung zu bleiben, doch noch wurde diese große, dumpfe Angst von anderen Gedanken überlagert. Ihm stand eine gefährliche Reise bevor. Ob sie gut verlief oder in einem Desaster endete, hing allein von der Stärke seines Willens und seiner Geschicklichkeit ab. Es gab Wesen dort draußen, die seine Hilfe brauchten. Es gab Geheimnisse, die gelöst werden mussten. Und es gab seine wahre Natur, die vor Dutzenden neugierigen Augen versteckt bleiben musste. Es wurde Zeit, Maya in seine Pläne einzuweihen.
„Ich habe dir doch von den Visionen erzählt.“ Er legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Am östlichen Horizont ging die Sonne auf. Sie war nicht stark genug, um die graue Wolkenmasse aufzulösen, doch ihr hindurchdringender Schimmer genügte, um das Meer in eine Ebene aus geschmolzenem Silber zu verwandeln.
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