Meeresblau
Mannschaft zu mutieren. Wenn die dich in ein Aquarium sperren, nützt das deinesgleichen gar nichts. Momentan stehe ich ehrlich gesagt auf der Seite der Meerjungfrau. Ich liebe dich, Chris. Ich will dich nicht verlieren. Aber dieses Schiff ist kein Ort für dich. Du hättest mit ihr gehen und ein artgerechtes Leben anfangen sollen.“
Er seufzte, drehte die Dusche zu und sah sie an. Solange, bis sie das hypnotische Blau seiner Augen nicht mehr ertrug. Am liebsten hätte sie ihn gepackt, zum Bett gezerrt und hemmungslos geliebt, solange, bis sie rettungslos den Verstand verlor. Sie musste es einsehen. Es war unmöglich, ihn umzustimmen. Sie fühlte sich abgrundtief hilflos und verließ die Dusche mit einem verzweifelten Knurren auf den Lippen. Zurück im Zimmer zog sie sich um, fischte eine schwarze Schlafanzughose aus ihrer Tasche und reichte sie Christopher durch die Tür.
Als sie schließlich im Dunkeln auf dem Bett lag und ins Leere starrte, fühlte sie sich wie ein Geist. Ein Teil von ihr befand sich in einer anderen Welt und sehnte sich danach, wieder vollständig zu sein. Sie wollte nach Hause. Wirklich nach Hause, und keine Angst mehr um ihn haben. Doch dieser Gedanke war lächerlich. Sie wusste nicht einmal, wo dieses Zuhause lag.
Herrgott, was konnte sie melodramatisch sein. Sie musste damit aufhören. Es half rein gar nichts. Maya schloss für eine Weile die Augen, atmete tief durch und wartete, bis ihr Herzschlag einen gesünderen Rhythmus angenommen hatte. Als sie wieder aufblickte, saß Christopher auf der Bettkante. Er sah sie an. Reglos, ausdruckslos.
Warum hatte sie ihn nicht bemerkt?
Nach einer Weile, in der sie seinem Blick ausgewichen war, legte er seine Hand auf ihre Wange und drehte ihr Gesicht herum, sodass sie gezwungen war, ihn anzusehen. Kaum lieferte sie sich seinem Blick aus, fiel die Angst wie ein altes Kleidungsstück von ihr ab. Ruhe kehrte in ihrem Inneren ein. Eine Ruhe, so tief, dass ihr Körper, dieser Raum, ja selbst das Universum ausgefüllt wurde.
Die Welt löste sich auf.
Und entstand neu …
… schwerelos schwebte sie in der Tiefe. Sah nichts außer dem Mond, der hoch über ihr durch das Wasser schimmerte, mit den Wellen zerfließend und tanzend. Sie trieb dahin. Gedankenlos, zeitlos. Eine Strömung umgarnte ihren Körper. Gab ihr das Gefühl, als wäre sie ein Kind und läge in einer Wiege. Sie wusste nicht, warum sie hier war, woher sie kam oder wie viel Zeit vergangen war. Jahrtausende hätten vorbeifließen können. Es war gleichgültig. Sie trieb dahin im Meer des Vergessens, und über ihr wanderten die Sterne mit ihr durch die Ewigkeit.
London, Heathrow Airport
C hristopher saß in der Wartehalle, mehr liegend als sitzend in den Stuhl gekauert, und las die Anzeigetafel. Sydney, San Francisco, Barcelona …
Schon immer hatte er den Klang solcher Ziele geliebt. Sie erinnerten an lange Reisen zu Schiff, an fremde Welten und Hafenromantik. Er fragte sich, ob der Seemann noch lebte, dessen Münzenarmband er an seinem Handgelenk trug. War er eine jener Seelen gewesen, die die Meerjungfrau genommen hatte? Er ließ seinen Blick schweifen und entdeckte Maya zwischen einer Gruppe energisch plappernder und gestikulierender Menschen. Einige hatte er bereits als Mitglieder der Crew kennengelernt, andere waren ihm noch fremd. In der Stunde, die sie bereits in der Halle verbrachten, hatte er gefühlte zehntausend Fragen beantwortet.
„Sind Sie es wirklich? Es ist mir eine Ehre … Dr. Jacobsen, ich habe so viel von Ihnen gehört … Werden Sie einen Vortrag halten? Wenn ja, worüber? Stimmt es, dass Sie bei Antritt Ihrer Lehrtätigkeit der jüngste Dozent Großbritanniens waren?“
Glücklicherweise hatte er im Laufe seiner Lehrtätigkeit den höflichen, aber eindeutigen Rückzug perfektioniert, sodass man ihn inzwischen in Ruhe ließ. Die üblichen, sondierenden Blicke ausgenommen. Seine Gedanken waren zu abgelenkt, um sinnvolle Konversationen zu führen.
Etwas hatte er mit Maya getan, und er wusste nicht, was. So, wie er auf der Klippe seine Ruhe auf das Meer übertragen hatte, war es gestern Abend auch bei ihr geschehen. Er hatte sie einfach angeblickt und auf sie eingeflüstert. Zusammenhangloses ohne Sinn, weil er wusste, dass sie seine Stimme als angenehm empfand. Er hatte sie beruhigen wollen, ihr ein wenig die Angst und Sorge um ihn nehmen. Nach wenigen Worten war sie eingeschlafen und das hatte ihm Angst gemacht, denn eine solch heftige Reaktion auf seine
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