Meeresblau
Entweder hat der Kerl übertrieben oder sie sind wegen dir gekommen.“
„Lass uns gehen.“ Er nahm sie bei der Hand. „Ich will sie sehen. Komm.“
„Versprich mir nur eins.“
„Ja?“
„Mach nichts Blödes.“
Von draußen ertönten begeisterte Schreie, was darauf schließen ließ, dass der Mann nicht übertrieben hatte. Ihm wurde flau im Magen. Die Flauheit steigerte sich zu faszinierter Verblüffung, als er sich über die Reling beugte. Einiges hatte er erwartet, aber nicht das. Im azurblauen Wasser, so nah am inzwischen gestoppten Schiff, dass die Brustflossen es streiften, schwamm ein ausgewachsener Buckelwal. Dicht neben ihm tauchten zwei weitere Tiere auf, durchbrachen die Oberfläche und stießen schnaufend Fontänen aus.
Wie vom Donner gerührt stand er da. Die euphorischen Rufe der Crew rückten in weite Ferne. Alles wurde still, sein Herz schien fast stehen zu bleiben. Der Walbulle präsentierte seinen schneeweißen, von Rillen durchzogenen Bauch. Wülste aus Seepocken bedeckten die schiefergraue, narbige Haut seines Kopfes. Gemächlich hob er eine seiner meterlangen Brustflossen, hob sie höher und höher, um sie mit gewaltigem Lärm auf das Wasser klatschen zu lassen. Der Wal sang. Er stöhnte, keuchte und pfiff mit einer solch melodischen Wehmut, dass Christophers Körper sich vor Sehnsucht verkrampfte. Das Tier kam noch näher, rieb sich am Schiff und sah mit seinem kleinen, glänzenden Auge zu ihm auf. Sein Blick war sanft, voll uraltem Wissen. Die gesamte Tiefe des Ozeans schien darin zu liegen. Zahllose Bilder und Erinnerungen, zusammengesammelt aus den Äonen der Zeitgeschichte, doch er wagte es nicht, seinen Geist für sie zu öffnen.
„Er sieht dich an, Chris“, flüsterte Maya. „Ich wusste es. Sie sind wegen dir gekommen.“
Er umklammerte die Reling. Spürte wieder den Schwindel, das Entschwinden seines Willens. Krampfhaft hielt er sich an seiner Menschlichkeit fest, doch die Verlockung, sich fallen zu lassen, wuchs ins Unerträgliche.
Der Wal neigte sich zur Seite. Von keinerlei Eile tangiert und unbekümmert ob der lauten Rufe tauchte er ab, wie ein lebendig gewordener Teil des Ozeans
„Er verschwindet.“ Mayas Stimme war voller Enttäuschung. „Jetzt verstehe ich dich. Deine Zerrissenheit. Deine Unruhe. Eben geht es mir wie dir. Wenn ich nur sehen könnte, was er sieht. Wenn ich nur mit ihm gehen könnte.“
„Er kommt wieder.“ Christopher nahm sie in die Arme und hielt sie so fest er konnte. Diese Frau war das einzige Wesen, das ihn in der Wirklichkeit hielt. Der Gesang des Wales zehrte an seinem Willen, denn in ihm lag das Versprechen berauschender Schönheit. Nichts half dagegen, nur Mayas Nähe. Mit trägen Schlägen ihrer Fluken entfernten sich die Tiere, krümmten ihre Leiber und tauchten. Ein fantastisches Bild malend, erhoben sich ihre Schwanzflossen synchron in die Luft, entblößten ihre weißen Unterseiten und verschwanden im Blau des Meeres.
Er hielt den Atem an. Es war noch nicht vorbei. Die gesamte Mannschaft schwieg. Niemand sagte etwas. Niemand schrie oder lachte mehr.
„Sie kommen zurück“, flüsterte er. „Genau unter uns.“
Maya beugte sich in seinen Armen vor. Aus dem Blau der Tiefe schoss ein riesiger Kopf auf sie zu. In einer Kaskade aus Gischt und Wassertropfen durchbrach der Walbulle die Oberfläche, stieg höher und höher, hievte zuerst seinen Kopf, dann die Brustflossen und den schneeweißen Bauch aus dem Wasser, bis die Spitze seiner Schnauze in Höhe der Reling lag. Wie in Zeitlupe und gelenkt von einem unwiderstehlichen Willen streckte Christopher seinen Arm aus. Und dann berührte er die narbige, schiefergraue Haut des Tieres.
Das gewaltige Wesen schien in der Luft zu schweben, seine Hand, die über die Walschnauze streichelte, wirkte winzig. Wie die eines Kindes. Ein magisches Band wurde geknüpft, hielt für die Dauer eines Augenblicks und zerriss, als die Zeit ihren Lauf wieder aufnahm und der massige Körper zurück ins Wasser glitt. Es blieb fassungslose Stille.
„So was habe ich noch nie erlebt“, flüsterte jemand. „Und ich fahre seit über fünfzig Jahren zur See.“
Schwer atmend sah Christopher in das Wasser hinunter. Er musste ihm folgen. Es war seine Bestimmung. Sein Zuhause. Das Meer brauchte ihn.
„Chris?“, flüsterte eine Stimme neben ihm. Er verstand sie kaum. „Komm mit, du veränderst dich.“
„Was?“
Sein Arm wurde gepackt. Ehe er wusste, wie ihm geschah, befand er sich in einer Spalte
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