Meeresrauschen
Suche
nach seiner Bestimmung in den Tiefen des Atlantischen Ozeans
verschwand, wollte ich mich mit keiner Zelle meines Körpers
erinnern.
Elodie?
Die Stimme kam von weit her. Ich hörte sie nicht mit meinen
Ohren und sie war auch nicht in meinem Kopf.
Elodie?
Wie von einer starken Strömung getrieben, rollte sie unaufhaltsam
auf mich zu, aus der Dunkelheit unter mir. Aus der
Tiefe des Meeres.
Elodie, wo bist du?
Es war Gordys Stimme.
»NEIIIN!«
Ich schrie. Trat um mich. Schlug nach ihm.
»Du darfst mich nicht finden! Es ist vorbei! Du darfst
nicht … BITTE, GEH WEG! BITTE! BITTE! BITTE!«
Mit dem nächsten Atemzug war ich hellwach.
Die durchscheinende halbe Scheibe des Mondes leuchtete
durch den Vorhangspalt in mein Zimmer.
Ich saß in meinem Bett. Das Kopfkissen war klatschnass, die
Decke auf den Boden hinuntergerutscht. Meine Haare klebten
mir auf der schweißnassen Stirn und ich zitterte am ganzen
Körper.
»Gordy«, wisperte ich.
Ich wollte weinen, aber es ging nicht. Meine Augen brannten,
meine Lippen bebten, aber der Schmerz, den ich empfand,
war so tief in mir, dass ich ihn nicht herauslassen konnte.
Irgendwann in den frühen Morgenstunden musste ich wieder
eingeschlafen sein, denn als ich erwachte, war es taghell.
Meine Augen brannten noch immer, und in meiner Brust
saß ein dumpfer quälender Schmerz, der bis in den Hals hinaufstrahlte,
auf meine Kehle drückte und mir fast den Atem
nahm.
Ich hatte von Gordy geträumt, aber ich wollte nicht an ihn
denken. Die Erinnerung an ihn tat so weh, dass ich es nicht
ertrug. Ich musste ihn vergessen. Ihn und alles, was ich mit
ihm in Verbindung brachte.
Ich musste! Musste! Musste!
Doch ich musste auch noch etwas anderes: weiterleben.
So sehr ich es mir auch gewünscht hatte, ich konnte nicht
für immer in meinem Versteck bleiben. Ich war keine Delfinnixe,
die über Jahrzehnte hinweg ins Vergessen abtauchen
konnte.
Ich war Elodie Saller.
Und ich hatte ein Geheimnis, das ich mit niemandem hier
teilen konnte.
Mam hatte Frühstück gemacht. Sie war gerade dabei, ein Glas
frisch gepressten Orangensaft, zwei Brötchen, einen Teller mit
Käsescheiben und das Marmeladenglas auf ein Tablett zu stellen,
als ich in die Küche trat.
»Elodie!« Überrascht sah sie mich an. »Du bist aufgestanden!
«
Ihre Augen strahlten, und ich stellte verwundert fest, dass ich
für einen Moment tatsächlich so etwas wie Freude empfand.
»Ja«, sagte ich, zuckte mit den Schultern und ließ mich auf
die mit Blumenkissen gepolsterte Bank sinken.
Früher hatte ich nur selten hier gesessen,
mein
Stuhl stand
gegenüber auf der anderen Seite des dunklen Holztisches.
Aber irgendwie bekam ich es nicht hin, meinen alten Platz
wieder einzunehmen.
»Dann geht es dir also … besser?«, fragte meine Mutter zögernd.
»Ja … schon.«
»Vielleicht ist es gut gewesen, dass du gestern so ausgerastet
bist.«
Sie sagte es sehr, sehr vorsichtig.
»Ja, vielleicht.« Ich nickte.
»Möchtest du drüber reden?«
Ich schüttelte den Kopf.
Mam musterte mich kurz, dann lächelte sie. »Okay.«
Sie nahm das Glas mit dem Orangensaft vom Tablett, stellte
es vor mich hin und setzte sich ebenfalls.
»Hat Sina sich noch mal gemeldet?«, fragte ich, während ich
meinen Blick unschlüssig über den Tisch gleiten ließ.
Ich verspürte keinen Hunger.
»Nein, hat sie nicht«, erwiderte meine Mutter. »Ich denke,
sie wartet auf ein Signal von dir.« Sie zeigte auf das Glas. »Vielleicht
solltest du erst mal den Saft trinken.«
»Ich kann mit ihr nicht darüber reden«, sagte ich. »Sie … sie
würde es nicht verstehen …«
»Es käme auf einen Versuch an.«
»Ach, Mam, du weißt doch, wie sie ist.« Ich legte meine Finger
um das Glas und drehte es sachte hin und her. »Sina will
immer gleich alles analysieren. Sie wird versuchen, mir meine
Gefühle mit dem Verstand auszutreiben.«
Meine Mutter streichelte mir flüchtig über den Arm.
»Das geht sowieso nicht«, sagte sie leise. »Außerdem ist Sina
gar nicht so vernünftig, wie es scheint. Ich glaube, sie versteht
dich sogar sehr gut.«
Ein unangenehmer Druck breitete sich unter meinem
Zwerchfell aus und ließ den Schmerz in meiner Brust für einen
Moment in den Hintergrund treten.
»Mam, ich …«
»Schon gut«, unterbrach sie mich sanft. »Wir müssen nicht
reden. Über gar nichts. Und du brauchst dich auch nicht bei
Sina zu melden, wenn du nicht …«
»Ich werde ihr nachher einen Brief schreiben«, sagte ich,
setzte das
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