Meeresrauschen
Sonnenstrahl
traf mich mitten ins Gesicht, und mit einem Schlag wurde
mir bewusst, dass es nicht Cyril war, der mich zu erdrücken
versuchte, denn ich erinnerte mich daran, dass Gordian sich
vor dem Einschlafen über mich gelegt hatte.
»Geh weg«, stöhnte ich und fing an, um mich zu schlagen
und zu treten. Einen Moment wunderte ich mich noch über
meine plötzlich wiedergewonnene Freiheit, da umfasste jemand
meine Handgelenke und Tante Grace sagte ruhig, aber
bestimmt: »Es ist alles in Ordnung, Elodie. Niemand tut dir
etwas.«
Ein paar Sekunden lang war ich völlig verwirrt, dann kapierte
ich, dass meine Großtante in einem geblümten Morgenrock
neben mir saß und meine Arme neben meinem Kopf in
die Kissen drückte.
»Wo ist Gordy?«, stieß ich keuchend hervor.
»In seinem Zimmer im Gästehaus, nehme ich an«, erwiderte
sie.
»Aber …?«
»Nichts aber. Du hast geträumt«, sagte Tante Grace. Sie ließ
mich los und seufzte. »Wie so oft in der letzten Zeit. Diesmal
scheint es allerdings besonders … na ja, sagen wir mal
intensiv
gewesen zu sein. Ich habe deine Schreie bis hinunter in
meine Schlafstube gehört.« Sie zupfte an meinem Trägertop.
»Offensichtlich hast du Rotz und Wasser geheult. Ich glaube,
ich werde mit deiner Mutter darüber beraten, ob es nicht sinnvoller
ist …«
Ich schnellte hoch. »Nein!«
»Lass mich doch erst mal ausreden«, entgegnete meine Großtante.
»Du weißt ja gar nicht, was ich sagen will.«
»Ich kann es mir denken.«
Tante Grace lächelte. »Das glaube ich kaum.«
Ich runzelte die Stirn und überlegte, in welche Falle ich
wohl als Nächstes tappen würde.
»Ich habe den Eindruck, dass Gordian ein sehr feinfühliger
junger Mann ist«, begann sie. »Auf jeden Fall finde ich ihn ausgesprochen
sympathisch – auch wenn ihm das, was ich koche,
offensichtlich nicht schmeckt«, fügte sie mit leicht tadelndem
Unterton hinzu.
»Tante Grace …«
Sie ließ mich nicht zu Wort kommen, sondern tätschelte mir
sanft den Oberschenkel. »Es wird wohl daran liegen, dass ich
mich mit den Ernährungsgewohnheiten eines Extremsportlers
nicht so recht auskenne«, meinte sie lächelnd. »Davon abgesehen,
ist es ohnehin seine Sache. Nur weil ich ihn hier wohnen
lasse und zu den Mahlzeiten eingeladen habe …«
»Solltest du mich jetzt mit Vorwürfen überschütten wollen,
Tante Grace …«, murmelte ich.
»Nein, entschuldige, das will ich selbstverständlich nicht«,
unterbrach sie mich. »Schon gar nicht, nachdem du so schlecht
geträumt hast. Also«, fuhr sie leise seufzend fort, »ich dachte
mir, dass es vielleicht das Beste wäre, wenn Gordian auch über
Nacht bei dir ist. Das Apartment hier ist ja groß genug!« Sie
machte eine weit ausholende Geste und deutete anschließend
auf die freie Stelle unter der Schräge gegenüber der Sitzgruppe.
»Wir könnten dort drüben ein zweites Bett aufstellen. Das
scheint mir kein Problem zu sein.«
Ungläubig sah ich sie an. »Tante Grace …«
»Selbstverständlich nur, wenn es ihm recht ist.« Sie erwiderte
meinen Blick. »Und dir natürlich.« Noch einmal tätschelte sie
meinen Oberschenkel, dann erhob sie sich von der Bettkante,
räusperte sich ein wenig umständlich und fragte: »Ich nehme
an, du hast ihm erzählt, warum du hier bist.«
»Ähm, ja.« Ich nickte.
»Gut. Dann rufe ich jetzt Rafaela an. Mich würde es jedenfalls
außerordentlich beruhigen, wenn du nachts nicht allein
hier oben wärst.«
»Okay«, sagte ich. »Wenn du meinst.« Das Herz schlug mir
bis zum Hals. Ich konnte es kaum erwarten, dass sie das Zimmer
verließ und ich endlich nachschauen konnte, wo Gordian
abgeblieben war.
»Wir reden nachher noch einmal darüber.« Meine Großtante
rückte ihr nachlässig umgebundenes violettes Haarband
zurecht. »Und jetzt solltest du dich bitte rasch fertig machen.
Jane zählt auf dich. Ich würde dich nur ungern gleich am ersten
Tag bei ihr entschuldigen müssen.«
»Kein Problem«, beruhigte ich sie. »Es geht mir gut.«
Wenn man davon absah, dass mein T-Shirt und das Kopfkissen
wieder einmal klatschnass waren – und zwar ganz sicher
nicht, weil ich
Rotz und Wasser
geheult hatte.
»Fein«, sagte Tante Grace. »Dann erwarte ich dich in einer
halben Stunde zum Frühstück.« Sie versuchte ein Lächeln. Es
war unschwer zu erkennen, wie wenig ihr das Ganze gefiel –
weder meine Albträume noch der Vorschlag, zu dem sie sich
gerade durchgerungen hatte. »Also, bis gleich.«
Kaum hatte sie die Tür hinter sich
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