Meeresrauschen
saß er auf einem der Sessel
noch hatte er sich zwischen den Blumenkübeln oder im Badezimmer
verkrochen.
Ich stürzte auf den Balkon hinaus und ließ meinen Blick
über die Gartenterrassen, die Klippen und das Meer gleiten. –
Nichts!
Mein Herz raste in meinem viel zu engen Brustkorb, mein
linker Knöchel juckte, während der rechte sofort wie verrückt
zu brennen anfing. Ich hatte das Gefühl, als ob das Hautstück,
das sich nach meiner Verletzung am Unterschenkel gelöst
hatte, in Flammen aufging.
»Was, um Himmels willen, ist passiert?«
Ich hatte Tante Grace nicht kommen hören und fuhr vor
Schreck zusammen.
»Wo ist Gordian?«, presste ich hervor.
»Wollte er nicht schwimmen gehen?«
Für meinen Geschmack kam diese Antwort einen Tick zu
spät.
»Nein.« Mein Magen schmerzte vor Angst und Übelkeit.
Ich krümmte mich über dem Geländer zusammen und hoffte
noch immer, ihn jeden Augenblick zwischen den Felsen zu
entdecken. »Er müsste längst zurück sein.«
»Bist du sicher?« Tante Grace legte mir ihre warme Hand
zwischen die Schulterblätter. »Ich meine, du bist gerade einmal
anderthalb Stunden weggewesen. Gordian weiß doch, dass
du eigentlich bis vierzehn Uhr bei Jane arbeiten sollst. Oder
nicht?«
Sie hatte recht. Sie hatte ja sooo recht. Und trotzdem: Ich
traute ihr plötzlich nicht. Vielleicht diente ihr Versuch, mich
zu beruhigen, allein dem Zweck, dass ich vorerst nicht weiter
nach Gordy suchte. Kyan, Liam, Zak und die anderen
Delfine waren eine wahrhaft ernst zu nehmende Bedrohung
gewesen, die Hainixe jedoch, die es seit langer Zeit gewohnt
waren, sich unentdeckt an Land zu bewegen, bedeuteten eine
echte, eine akute Todesgefahr für ihn. Ich mochte gar nicht
darüber nachdenken, wie lange Gordy gebraucht hatte, bis
er Cyrils Identität entlarvt hatte. Und auch ich, die ich zwar
Javen Spinx und Cyril als ziemlich außergewöhnlich wahrgenommen
hatte, war mir alles andere als sicher, dass ich jeden
Hainix sofort erkennen würde. Tante Grace konnte ebenso
gut einer sein.
Aber ich musste mich verdammt noch mal zusammenreißen
– es nützte Gordy nichts, wenn ich jetzt den Kopf verlor.
Nur wenn ich meinen Verstand gebrauchte, würde ich ihm
helfen können. Und so antwortete ich endlich so lässig wie
möglich: »Ja, natürlich. Warum sollte er in meinem Zimmer
herumhängen, obwohl er doch genau weiß, dass ich überhaupt
nicht hier bin?«
»Wie sollte er überhaupt hineingekommen sein?«, erwiderte
meine Großtante.
Ich sog tief Luft in meine Lungen und mit dem Ausatmen
richtete ich mich auf. »Er hätte sich an dir vorbeischleichen
können.«
»Das würde ich ihm nicht geraten haben«, sagte Tante Grace.
»Ein wenig hätte ich schon gerne noch die Kontrolle über
mein Haus.«
Sie klang wie die Großtante, die mich vor fünf Wochen am
Flughafen in Empfang genommen und die ich als Kind so geliebt
hatte, und in diesem Moment wünschte ich mir aus tiefstem
Herzen, dass mein Misstrauen ihr gegenüber und dieser
schreckliche Verdacht absolut unbegründet waren.
»Wenn ich du wäre, würde ich in seinem Zimmer im Gästehaus
nachschauen oder ihn in der Vazon oder der Cobo Bay
suchen«, empfahl sie mir jetzt. »Vielleicht sitzt er gerade in
einer Sandwichbude und nimmt eines dieser ungemein proteinreichen
Fischgerichte zu sich.«
Die Ironie in ihrer Stimme beruhigte mich ein wenig. Doch
die Angst um Gordy konnte sie damit nicht vertreiben.
Noch einmal atmete ich tief ein und aus. »Okay«, sagte ich.
»Das ist ein guter Tipp, das mache ich.«
Tante Grace tätschelte mir den Rücken. »Fein. Ich erwarte
dich dann wie gewohnt so gegen sechs zum Abendbrot. Und
wie gesagt: Dein Gordian ist mir jederzeit willkommen.«
Im Grunde war es reine Zeitverschwendung gewesen, im
Gästehaus nachzuschauen, und auch jetzt, während ich den
Küstenweg entlangraste, überlegte ich, ob ich das Richtige tat.
Wäre meine Großtante tatsächlich ein Hai, der es darauf anlegte,
Gordy zu vernichten, hätte sie mich bestimmt in die falsche
Richtung gelenkt.
»So ein Quatsch, sie ist kein Hai«, murmelte ich. »Und selbst
wenn, wäre sie auf meiner Seite.« Davon zumindest wollte ich
überzeugt sein. Denn ich hätte nicht gewusst, wo ich Gordy
sonst hätte suchen sollen. Auf Lihou Island? Oder an der Südküste?
– Das eine wäre so absurd wie das andere. Ohnehin hätte
ich keine Chance, ihn im Meer zu finden. Was das anging,
war ich ein Krüppel. Man hätte mir die modernste Tauchausrüstung
mit Flossen und
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