Meerestochter
sinken, ehe er sich Ondra zuwandte. «Geht es wieder? Mein Gott, Mädchen, du hast ausgesehen wie der Tod. Ich weiß schon, mein Fahrstil ist gewöhnungsbedürftig. Oder sind Nixen generell nicht reisefest? Ich …» Weiter kam er nicht. Das Mädchen, das bisher in die Ferne gestarrt hatte, wandte ihm das Gesicht zu. Sie schaute ihn an.
Morningstar öffnete den Mund. Aber …, wollte er beginnen. Doch er brachte nicht heraus, was er hatte sagen wollen. «Deine Augen», stammelte er. «Was ist mit deinen Augen?»
«Was soll mit ihnen sein?», fragte Ondra. Sie sprach langsam, wie im Traum. Ihre Stimme klang, als wäre sie sehr weit entfernt.
«Sie, sie sind …» Morningstar wusste nicht, wie er es beschreiben sollte. «Grün», sagte er schließlich. «Oder: nein.» Im selben Moment erschienen sie ihm vollkommen dunkel zu sein und tief wie Löcher. Dann wieder waren sie reine Oberfläche, sie schillerten, und ihre Farbe wechselte mit jeder Schattierung des schwindenden Lichts. Waren sie eben noch smaragdgrün gewesen, schimmerten sie jetzt wieder blau, dann blass lilafarben, grau bis zur Farblosigkeit, schließlich golden, dann beinahe schwarz, um wieder tintenblau zu werden. Es war ein Schauspiel, als blicke man in einen Opal.
«Deine Pupillen, sie sind mit einem Mal ganz klein. Wie die Spitzen von Nadeln.» Er griff nach dem Sonnenschutz und klappte ihn herunter, damit der Schatten auf das Gesicht der Nymphe fiel, die noch immer wie eine Somnambule dasaß. Aber Ondras Pupillen weiteten sich nicht, ebenso wenig, wie sie sich früher zusammengezogen hatten. Sie blieben fremd und klein und scharf und ließen ihren Blick, dachte Morningstar mit einem Schaudern, aussehen wie den eines hungrigen Tieres. Eines fremdartigen, hungrigen, unzähmbaren Tieres. Die Gleichgültigkeit, die aus diesem Blick sprach, schien ihm uralt zu sein und erschreckte ihn mehr als alles, was er je gesehen hatte. Einen Moment lang wäre er am liebsten aus dem Auto gesprungen und davongelaufen.
Da seufzte sie und sank in sich zusammen.
«Christy, mein Gott, Christy!» Er überwand seine Furcht, packte sie an den Schultern und schüttelte sie. «Hörst du mich überhaupt?»
Sie hob den Kopf. Auf ihrem Gesicht erblühte ein seltsames Lächeln, das Morningstar eine Gänsehaut verursachte. «Ich höre so vieles», murmelte sie, richtete sich wieder auf, nachdem sie eben wie eine Stoffpuppe herumgeschlenkert war, und wandte sich ab, das Gesicht blicklos der See zugewandt.
Der Pathologe saß da und wusste nicht, was er tun sollte. «Christy, ich meine Ondra. Ich …» Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich überfordert. Da fiel ihm etwas ein. «Die Spurensicherung sagt, in den Würgemalen am Hals der Frau waren winzige Fragmente von Bambusfasern. Wir suchen also nach einer Kette oder einem Vorhang aus Bambuskugeln. Hast du so etwas gesehen, als du in Broxton warst?»
Sie schüttelte den Kopf, nicht besonders interessiert, wie ihm schien. Offenbar war sie nicht bereit, zu ihm zurückzukehren.
Morningstar trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad. «Trotzdem sollten wir Knightley so rasch wie möglich Bescheid geben. Ich werde mit ihm reden, während du deinen Adrian suchst.»
«Ich suche ihn nicht.» Ondras Stimme klang belegt. Es war der erste Hauch von Emotion, den Morningstar bei ihr wahrnahm, seit sie dieses Gespräch führten.
«Ach, auf einmal nicht mehr?», entfuhr es ihm. «Warum zum Teufel unternehmen wir dann diese Fahrt? Ich habe mir extra freigenommen. Ich erzähle meinen Mitarbeitern irgendwelche Geschichten und kommuniziere ständig übers Telefon mit meiner Dienststelle, weil eine Nixe mir sagt, dass sie ein romantisches Rühren verspürt und mit ihrem Ex reden will. Und – um das Maß vollzumachen – das alles tue ich, anstatt derselben Nixe, wie eigentlich geplant, falsche Papiere bei einem korrupten Exbullen zu besorgen, was alleine meine Karriere ruinieren dürfte. Und dann werde ich hier auch noch zu Tode erschreckt.»
Im selben Moment, in dem er es aussprach, wurde ihm klar, dass es stimmte: Er hatte Angst, eine unbestimmte, aber große Angst, die er sich selber nicht erklären konnte. Er hob die Hände und ließ sie auf das Lenkrad fallen. «Ich habe mich übernommen», bekannte er. «Die Situation wächst mir über den Kopf.»
Ondra lächelte, ein wenig wie der Mensch, der sie noch vor kurzer Zeit gewesen war. «Es ist ein Unterschied, ob man den Haifisch auf dem Teller liegen hat oder ob er einem in
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