Meerestochter
nach ein wenig Wärme und Geborgenheit als aus Durst. Das war alles nicht mehr wichtig.
Hier hockte sie also. Sie schaute zum Himmel. Die Sterne waren dieselben, und doch anders, nur noch Lichter, ohne Geschichte, ohne Klang. Sie konnte den Mond sehen, aber seine Kraft spürte sie nicht mehr, er zog sie nicht mehr an, sie konnte sich ihm nicht mehr hingeben, nicht mehr mit ihm tanzen. Sie saß starr.
Dieser Ort hier, auch wenn er das Herz von Roses und Adrians Leben gewesen sein mochte, er war tot. Er war tot in jeder Hinsicht. Und vielleicht wäre es besser, sie, Ondra, wäre es auch. Auf ihrem Grabstein würde Christy stehen, selbst das ergab Sinn. So wäre sie wenigstens vollständig verschwunden. Der Gedanke gefiel ihr. Auch der, in der Erde zu liegen. Die Erde, mit ihren Gerüchen und Geräuschen, die hatte sie gemocht.
Ondra stand auf.
Draußen war es still. Kein Käuzchen, keine Aura, keine Rose. So, fand sie, war es gut. Noch immer konnte Ondra im Dunkeln gut sehen, Erbe ihrer Verwandten aus der Tiefe, Eigenschaft des Tieres, das fern der Sonne lebt. So fand sie mit wenigem Stolpern ihren Weg bis zum Ufer. Es gurgelte und gluckste rund um das Bootshaus. Das Wasser leckte über Holz, ergoss sich in Ritzen und erforschte Löcher, die es Stück für Stück vergrößerte. In ein paar Jahren würde alles hier zusammenstürzen, das Meer würde es aufnehmen, wie es alles Land eines Tages wieder verschlingen würde. Dann läge nur mehr die Stille nach dem Sturm über dem Wasser. Etwas platschte. Ondra zuckte zusammen. Aber es war nur ein Fisch, der nichts von ihr wusste. Vielleicht würde er bald ahnungslos von ihr fressen?
Sie erschrak bei diesem Gedanken. Der Conger, dachte sie. Würde er es sein? Ohne Namen und unvertraut? Oder einer der Haie? Früher hätte sie sie herbeigerufen. Es wäre anders gewesen. Blutig, grausam, aber anders. Die Sprachlosigkeit, die jetzt in allem lag, schnürte ihr die Kehle zu.
Ondra glaubte, sie bekäme keine Luft mehr. Adrian, dachte sie. Aber Adrian war weit weg. Eine ganze Welt entfernt. Sie versuchte, über sich selbst zu lachen. Die Erfahrung, die sie hatte machen wollen, um allen anderen voraus zu sein und um ihre Meerjungfrauenwelt zu erweitern – nun hatte sie sie gemacht: Sie wurde nicht geliebt.
Der Gedanke tat so weh, dass sie nicht länger zögerte. Sie machte sich nicht die Mühe, ihr Kleid auszuziehen, nur die Schuhe streifte sie ab. Dann glitt sie mit einer schnellen Bewegung in das schwarze, fremde Wasser.
Ondra stieß einen entsetzten Schrei aus. «Verflucht, ist das kalt.»
Als sie sich umwandte, sah sie in dem Gebäude, das sie einsam im Dunkeln verlassen hatte, plötzlich ein Licht brennen. Verstohlen tanzte es vom westlichen zum östlichen Fenster und wieder zurück.
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31. Kapitel
Michael Morningstar arbeitete so schnell und geräuschlos, wie er konnte. Seinen Hund hatte er im Auto gelassen, das oben an der Straße stand. Der Weg hier herunter war nicht einfach gewesen, aber seine Taschenlampe war ein Profimodell von den Kollegen der Spurensicherung, von denen er sich auch den Koffer ausgeliehen hatte. In ihrem Licht ging er jetzt die Gegenstände durch, die in Frage kamen. Er hatte bereits einige der alten Werkzeuge unten untersucht, jetzt wandte er sich der Küche zu.
Es bestand kein Zweifel, dass jemand hier aufgeräumt hatte. Das Geschirr, schätzte er, war neu, das Essen darauf beinahe frisch. Und zweifellos waren die Oberflächen abgewischt worden. Er würde sich auf die Stellen konzentrieren müssen, die man beim Putzen gerne übersah. Da half ihm seine lange Erfahrung als Single. Er wusste, wo man mit dem Lappen drüberging und was man gerne ausließ. Es dauerte nicht lange, und er hatte von der Unterseite der Arbeitsplatte sowie von der Eierfachklappe einige brauchbare Abdrücke gewonnen. Vorsichtig blies er den Staub herunter. Und was er sah, ließ seine Hände zittern. Michael Morningstar konnte nicht anders, er holte sein Heiligtum heraus, den Ausdruck eines Fingerabdruckes, der über fünfzehn Jahre alt war und das Seltsamste, was er jemals im Leben gesehen hatte. Ach was, seltsam, was für ein schwaches Wort. Er war einmalig, weder er noch irgendein Kollege hatten je einen zweiten gesehen, in keinem Fachbuch und auf keiner Internetseite war jemals von etwas Vergleichbarem berichtet worden.
Anfangs hatte Morningstar gesucht und gefragt, dann, als man ihm immer öfter ins Gesicht gelacht hatte und er zu begreifen
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