Meerestochter
begann, dass er da etwas in Händen hielt, das einer Ufo-Sichtung glich, einem Kornkreis, einem Funksignal aus dem All, da war er vorsichtig geworden und stiller. Er war ein vernünftiger Mann, keiner, der sich verrannte, keiner, der sein Leben drangab. Nun ja, seine Ehe vielleicht. Obwohl er vermutete, dass Mary ihn ohnehin verlassen hätte, auch ohne seine kleine Obsession, die noch mehr von seiner kostbaren Zeit gekostet hatte.
Irgendwann war auch das weniger geworden. Stille war eingekehrt um seinen Fund. Vergessen allerdings hatte er ihn nie. Bis zu dem Moment vor wenigen Tagen, als die Leiche eines jungen Mädchens auf seinen Tisch gekommen war, erdrosselt, ins Meer geworfen, und in dessen Kleidern sich, an seltsamer Stelle, ein Handy verfangen hatte. Die Spurensicherung war so überlastet derzeit, dass er die Fingerabdrücke auf dem Mobiltelefon selbst genommen hatte, inzwischen war das ja mehr als sein Hobby. Und was er fand, ließ ihn das Handy einpacken und von der Liste der Besitztümer streichen in der Hoffnung, dass noch keiner sich dafür interessiert hatte.
Morningstar wusste, dass er falsch handelte. Aber er sagte sich, was sollte schon geschehen? Es würde ihr eigenes sein, man würde ihre Kontakte prüfen, die man im Grunde bereits kannte, da die Eltern ihnen die Adressen aller Freunde gegeben hatten. Ihren Mörder hatte sie hier vor Ort gefunden, nicht im Telefonnetz. Nein, diesen Fund würde er, musste er für sich behalten: den zweiten Abdruck, den es weltweit gab in dieser Art: ohne Papillarlinien, dafür überzogen von einem Netzwerk kleiner … ja, wie sollte er sie nennen? Wenn sie nicht so klein gewesen wären, hätte er sie womöglich
Schuppen
genannt. Andererseits waren sie dazu zu unregelmäßig. Er war Angler, und er hatte die Gelegenheit genutzt, viele Schuppenkleider unter dem Mikroskop zu betrachten. Keines ähnelte dem des Fingerabdrucks. Dieser war – er hatte es bereits nach dem ersten Abdruck gemutmaßt, aber nun, da er zwei besaß, war er sicher – ebenso einzigartig wie menschliche Abdrücke. Es waren die Spuren von Individuen – nur Menschen waren es nicht.
Morningstar musste sich setzen. In einer Tasse – das Rosenmuster ließ ihn vermuten, wer die Besitzerin war, und er musste unwillkürlich lächeln – war noch etwas Tee. Als er einen Schluck nahm, war er kalt. Rose, dachte Morningstar. Mein Gott, die Frau hatte ihn schon vor einem guten Jahrzehnt beeindruckt. Man hatte es trotz ihrer Trauer spüren können, dass sie ein freier Geist war, ein wenig einsam vielleicht, aber voller Leben, voll Tiefe. Es hatte ihn nicht verwundert, als er hörte, dass sie Bilder malte. Er konnte sich wunderbar vorstellen, wie sie auf ihrem Felsen saß und das Meer auf sich wirken ließ. Ihre Augen waren so blau wie Wasser an Sommertagen, ihr Haar verriet Spuren von Rot. Und alles an ihr strahlte Wärme aus und Liebe. Jetzt wirst du pathetisch, alter Junge, mahnte er sich. Außerdem hat sie einen Mann, der auf rätselhafte Weise verschwunden ist, und ein Geheimnis, in dem du gerade herumstocherst, und zwar so intensiv, dass sie dir vermutlich die Rosenschere über den Kopf ziehen wird, wenn sie es bemerkt. Und sie wird nicht umhinkommen, es zu bemerken.
Er betrachtete seine Ergebnisse: Die Abdrücke in der Werkstatt waren eindeutig. Eindeutig und identisch mit denen vom Todesfall der Familie Ames. Die aus der Küche enttäuschten ihn. Er setzte die Teetasse ab und stutzte. Seltsamer Impuls, dachte er noch. Andererseits …
Morningstar wusste selbst nicht genau, warum er tat, was er nun tat. War es der eigenartige Eindruck gewesen, den die jungen Leute während des Picknicks bei ihm hinterlassen hatten? War es eine Eingebung? Oder schlicht Gründlichkeit? Jedenfalls begann er, die benutzte Tasse ebenfalls einzupinseln.
Der letzte Gegenstand, ermahnte er sich. Nur noch das hier. Und vielleicht die Innenseite der Kleiderschranktür … Dann mache ich aber wirklich Schluss. Wo ist denn nur …? Ach, da. Er hielt den Atem an, als langsam ein Muster sichtbar wurde, dann tastete er hinter sich nach dem Fixationsspray.
Plötzlich ging das Licht an.
«Was zum Teufel machen Sie da?»
«Rose!» Morningstar seufzte, erleichtert, obwohl der Schreck ihm noch in den Knochen saß und die Sache im Grunde nicht leichter geworden war. Sie würde, machte er sich klar, nicht auf seiner Seite sein. Schlimmer noch, sie würde denken, dass er sie benutzte. Und tat er das nicht auch, im Grunde?
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