Meerestosen (German Edition)
all meine Gedan ken. Wie hypnotisiert hielt ich meine Augen auf ihn gerichtet. Mit jeder Sekunde, die ungenutzt verstrich, beschleunigte sich mein Herzschlag, und ich konnte dem Impuls, zu ihm hinunter zuschwimmen, kaum noch widerstehen.
Von Minute zu Minute schien seine Haut bleicher zu werden, seine Augen verloren an Glanz, und dann kam der furchtbare Mo ment, in dem ich erkannte, dass sein Brustkorb sich nicht mehr hob und senkte.
Cullum! Oceane! Er erstickt!
Der Schrei erfüllte meine Kehle, meinen Kopf und mein Herz. Aber die beiden rührten sich nicht. Es war unfassbar! – Gordian atmete nicht mehr und seine Eltern ließ das vollkommen kalt.
Tut endlich was!
Mein Flehen verhallte und eine drückende Stille breitete sich aus. Ich spürte keine Strömung mehr, die vier Nixe wirkten wie zu Stein erstarrt und die Algen neben Gordys Körper lagen schlaff und leblos auf den Steinen. Es war, als hätte das Meer den Atem angehalten.
Kirby, wo bleibst du denn?, rief ich und blickte verzweifelt um mich.
Nie und nimmer hätte ich mir träumen lassen, dass ich mir ihre Anwesenheit einmal so sehr herbeisehnen würde.
Und plötzlich, so als hätte jemand in meinem Kopf einen Schal ter umgelegt, wurde mir klar, dass sie es nicht rechtzeitig schaffen konnte.
Die Zeit stand still und schenkte mir Entscheidungsfreiheit. Weder Cullum und Oceane noch Poy, Ramon oder Kirby würden mich daran hindern, Gordian zu helfen, und ich zögerte keine Sekunde.
Pfeilschnell schoss ich zu ihm hinab, legte mir seinen kalten Arm um den Nacken und zog ihn in Richtung Wasseroberfläche. Es kostete mich alle Kraft der Welt, denn Gordys lebloser Körper war schwer und seine Haut so glatt, dass sein Arm mir jeden Au genblick wieder zu entgleiten drohte. Ich beugte meinen Rücken, auf dem seine Brust ruhte, umklammerte sein Handgelenk und kämpfte mich verbissen nach oben.
Inzwischen hatte ich die Orientierung völlig verloren. Weder wusste ich, welche der drei Inseln ich gerade ansteuerte, noch, was uns dort oben erwartete. Ich konnte nur beten, dass sie tatsäch lich unbewohnt war und die Küste nicht allzu steil aufragte, damit ich überhaupt eine Chance hatte, Gordian an Land zu ziehen.
Und dorthin musste er, daran gab es für mich überhaupt kei nen Zweifel. Was mich antrieb, war das sichere Gefühl, dass ich das einzig Richtige tat.
Gordy musste überleben. Seine Zeit war noch nicht gekommen.
Diese Erkenntnis entsprang nicht nur der verzweifelten Hoff nung meines Herzens, sondern klang wie eine Melodie in mei ner Seele. Sie brachte jede einzelne Zelle meines Körpers, meines Denkens und Fühlens zum Schwingen und verlieh mir eine Ener gie, wie ich sie noch nie erlebt hatte.
Nicht ich, sondern etwas anderes, das mächtiger war als Gordy und ich, drängte uns der schillernden Oberfläche entgegen und schwemmte uns auf eine flach auslaufende Klippe. Vom salzigen Meer umspült, presste ich meine Lippen auf Gordians und sog das Wasser aus seiner Lunge.
Atme!, rief ich, während das Meer zurückwich, unsere Unterlei ber sich verwandelten und das wärmende Licht der Vormittags sonne auf unsere Beine fiel.
Bitte, Gordy, atme!
Ich sprang auf die Füße, schob meine Hände unter seine Ach seln und zog ihn weiter die Klippe ins Trockene hinauf. Keine Ahnung, woher ich die Kraft nahm, aber irgendwie bekam ich es hin, dass die nächste Welle, die das Meer an Land schickte, nicht einmal mehr seine Zehen berührte.
Komm schon, Gordy, ich weiß, dass du leben willst.
Ich ließ mich neben ihm nieder, vermied es, in seine starren Augen zu sehen, und begann, seine Brust zu massieren.
Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf.
Ich holte tief Luft, beugte ich mich zu ihm hinab, umschloss abermals seine Lippen und beatmete ihn. So ging es immer ab wechselnd: Massieren. Beatmen. Massieren. Beatmen.
Bitte. Bitte. Bitte.
Gordian rührte sich nicht. Seine Haut blieb bleich und kalt und sein Blick verlor sich in der Weite des Himmels. Ich konnte weder seinen Herzschlag noch den Puls an seinem Hals spüren.
Tränen stiegen mir in die Augen.
Verdammt noch mal, ich wusste doch, was ich wahrgenommen hatte! Die Melodie des Meeres. Ich war sicher, sie noch immer zu hören. Leise zwar. Sehr leise, jedoch deutlich genug, um nicht aufzugeben.
Hör zu, Gordy, ich gebe dir noch eine einzige Chance.
Meine Hände lagen auf seiner Brust. Wasser rann mir aus den Haaren, und ich zitterte am ganzen Leib, als ob ich fror. Gleich zeitig brannte in mir ein Feuer, das mich
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