Meerjungfrau
Haut spürte. Sie kannte ihn. Hätte er gewusst, wie schlecht es um sie bestellt war, hätte er sie sofort in die Klinik gebracht. Weil er sich krampfhaft an das letzte bisschen Hoffnung klammerte.
Doch ihr Körper sagte ihr, dass es nicht mehr lange dauern würde. Sie hatte der Krankheit nichts mehr entgegenzusetzen. Der Krebs hatte gesiegt. Nichts wünschte sie sich mehr, als unter ihrer eigenen Bettdecke und mit ihrem eigenen Kissen unterm Kopf zu Hause zu sterben. Und mit Kenneth nachts an ihrer Seite. Oft lag sie wach und lauschte, prägte sich jeden seiner Atemzüge ein. Sie wusste, wie unbequem er auf dem Klappbett lag, aber sie konnte sich nicht überwinden, ihm zu sagen, dass er nach oben gehen und sich dort ins Bett legen sollte. Vielleicht war es egoistisch von ihr, aber sie liebte ihn zu sehr, um in der wenigen Zeit, die ihr noch blieb, auf ihn zu verzichten.
»Kenneth?« Zum dritten Mal rief sie. Kaum hatte sie sich eingeredet, sie habe sich das Ganze nur eingebildet, hörte sie das vertraute Knarren der losen Bodendiele im Flur.
»Hallo?« Nun bekam sie Angst. Suchend sah sie sich nach dem Telefon um, das Kenneth normalerweise in ihre Reichweite legte, aber mittlerweile war er morgens so müde, dass er es manchmal vergaÃ.
»Ist da jemand?« Sie hielt sich an der Bettkante fest und versuchte erneut, sich aufzusetzen. Sie kam sich wie die Hauptperson in ihrer Lieblingserzählung vor, der Verwandlung von Franz Kafka, in der sich Gregor Samsa in einen Käfer verwandelt. Als er auf dem Rücken landet, kann er sich nicht mehr umdrehen und bleibt hilflos liegen.
Nun ertönten Schritte im Flur. Sie klangen zögernd, kamen jedoch immer näher. Lisbet spürte Panik in sich aufsteigen. Wer war die Person, die keine Antwort gab, wenn sie rief? Kenneth würde sie doch nicht auf den Arm nehmen? Da er nie solche Scherze mit ihr getrieben oder ihr unerwartete Ãberraschungen bereitet hatte, würde er wohl auch jetzt nicht auf die Idee kommen.
Die Schritte waren nicht weit entfernt. Sie starrte die alte Holztür an, die sie selbst vor einer gefühlten Ewigkeit abgeschliffen und lackiert hatte. Reglos blieb sie liegen und vermutete wieder, ihr Gehirn habe ihr einen Streich gespielt. Vielleicht hatte sich der Krebs bis dorthin ausgebreitet und ihr die Fähigkeit geraubt, klar zu denken und die Wirklichkeit realistisch einzuschätzen.
Dann kam die Tür langsam auf sie zu. Auf der anderen Seite stand jemand und drückte dagegen. Sie rief um Hilfe, schrie, so laut sie konnte, um die beängstigende Stille zu übertönen. Als die Tür offen war, hörte sie auf. Die Person begann zu sprechen. Die Stimme war vertraut und dennoch fremd. Sie kniff die Augen zusammen. Als sie die langen dunklen Haare sah, griff sie sich instinktiv prüfend an den Kopf, ob das gelbe Tuch noch da war.
»Wer?«, fragte sie, aber die Person hielt den Zeigefinger an die Lippen und brachte sie zum Schweigen.
Erneut ertönte die Stimme. Nun kam sie von der Bettkante, sprach ganz nah an ihrem Gesicht, sagte Dinge, die Lisbet lieber nicht gehört hätte. Sie schüttelte den Kopf, wollte sich die Ohren zuhalten, aber die Stimme, der Lisbet sich nicht entziehen konnte, fuhr unbarmherzig fort. Sie erzählte eine Geschichte. Irgendetwas im Tonfall und die vielen Vor- und Rückblenden überzeugten Lisbet davon, dass diese Geschichte wahr war. Und diese Wahrheit war mehr, als sie ertragen konnte.
Wie gelähmt hörte sie bis zum Ende zu. Je mehr sie erfuhr, desto schwächer wurde ihre Verbindung zu dem bisschen Leben, das noch in ihr pulsierte. Sie hatte auf Pump und aus reiner Willenskraft gelebt, die Liebe und das Vertrauen in diese Liebe hatten sie am Leben gehalten. Als ihr das genommen wurde, lieà sie los. Als Allerletztes hörte sie die Stimme. Dann brach ihr Herz.
»Wann können wir deiner Ansicht nach mit Cia reden?« Patrik sah seine Kollegin an.
»Leider haben wir keine Zeit zu verlieren«, erwiderte Paula. »Sie wird sicher verstehen, dass wir mit unseren Ermittlungen vorankommen müssen.«
»Da hast du sicher recht.« Patrik wirkte jedoch nicht überzeugt. Es war immer eine schwere Entscheidung. Entweder man machte seine Arbeit und musste sich vielleicht einem Trauernden aufdrängen, oder man handelte als Mitmensch und stellte die Arbeit hintan. Andererseits hatte Cia mit ihren unermüdlichen
Weitere Kostenlose Bücher