Mehr als ein Sommer
nicht erwartet, jemals wieder von ihr zu hören.
Er nahm das erste Foto in die Hand. Ein afrikanischer Krieger schwebte mitten in der Luft, etwa dreißig Zentimeter über dem Boden, und von den Schultern bis zu den Lenden war ein rot und orange bedruckter Stoffstreifen um seinen muskulösen Körper gewunden. Auf seinem Schädel thronte ein Kopfputz, der aussah wie eine Löwenmähne, und sein dunkles Gesicht war mit roten Flecken beschmiert. Seine Beine waren mit einem aufwendigen Muster aus Linien und Spiralen bemalt, Metallglöckchen hingen an seinen Oberschenkeln und an seinen Knöcheln. Seine Lippen waren geöffnet, als singe er gerade, und um seinen Hals baumelte eine Kette aus roten und gelben Perlen, die ihm quer über den vom Schweiß glänzenden Oberkörper reichte. Sein linker Arm lag starr an seiner Seite, während zwischen seinem rechten Arm und seinen Rippen ein Gegenstand klemmte. Trevor drehte das Foto um. Auf der Rückseite stand mit krakeliger Schrift, die er kaum entziffern konnte: Michael mit Martin und Donald. Trevor drehte das Foto wieder um und sah sich den Krieger noch einmal genauer unter einer Lupe an. Zwei Plastikdosen klemmten in der Armbeuge des Kriegers.
Das zweite Foto war ein Schock. Ein Traktor — einer seiner Traktoren — , ein International Harvester, Modell Nummer 1066, Jahrgang 1966, rot und weiß, stand am Rand eines Felds. Dort stand er schon seit langer Zeit; hochgewachsene Halme vertrockneten Grases verdeckten die wuchtigen Reifen. Constance hockte mit übergeschlagenen Beinen auf einem der Radschächte. Sie trug khakifarbene Hosen und eine Bluse, einen rosafarbenen Schal und ihren Hut mit der breiten Krempe. Er erkannte das zuckersüße, großmütterliche Lächeln. Martin und Donald hatten den Schalensitz in Beschlag genommen.
Trevor faltete den Brief auseinander.
14. Februar 1985
Sekera Village, Kenia
Lieber Trevor,
Jambo Bwana (das heißt»Hallo Mann« in Suaheli).
Ich hoffe, dass dieser Brief nicht zu lange braucht, um in Calgary einzutreffen. Ich würde nicht wollen, dass Sie denken, ich hätte Sie vergessen. Und ich brenne darauf, dass Sie diese Bilder sehen.
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, in Afrika finden zu können. Tiere, ja — und ich habe sie alle gesehen: Elefanten, Giraffen, Zebras, Kaffernbüffel. Gestern haben wir eine ganze Stunde lang ein Rudel von dreißig Löwen beobachtet, jede Menge Löwinnen mit ihren Jungen. Prachtvoll und wunderschön. Vor allem die Gastfreundschaft der Menschen hier hat mich überwältigt. Der junge Mann auf dem Foto ist Michael; sein Massai-Name ist Pakuo. Sie können auf dem Foto erkennen, dass er ein voll ausgebildeter und erfahrener Krieger ist, aber daneben erteilt er im Rahmen eines Weiterbildungsprogramms auch Englischunterricht im Dorf. Wir sind einander am letzten Tag meiner Safari in einem Straßencafe' begegnet, und er lud mich ein, für zwei Wochen bei ihm zu Hause zu wohnen. Ich wohne auf seiner Boma, seinem Gehöft, zusammen mit seiner Familie: seiner Frau Melissa und ihren beiden Kindern Janey und Albert. Ich liebe das Gemeinschaftsbett, in dem die Kinder sich an mich kuscheln, und das Geblöke und Gezappel der Kälber und Ziegen im Raum nebenan. Ich kann mich allerdings nicht dazu durchringen, zum Frühstück frisches Tierblut mit Milch zu trinken , und von dem offenen Feuer der Kochstelle habe ich einen Dauerhusten bekommen.
Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Ist das einer von Ihren Traktoren? Der hier ist kaputt. Keiner weiß, wie man ihn reparieren kann. Sie haben die Regierung gebeten, Ersatzteile zu schicken, aber es geschieht nichts. Ich kann mir beim besten Willen nicht vor stellen, warum irgendjemand Massais Traktoren geben sollte. Sie sind Nomaden. Den Boden aufzuhacken verstößt gegen ihren Glauben. Es ist lächerlich, dass man sie zwingt, sich in Dörfern anzusiedeln und als Farmer zu verdingen. Sie stellen Kikuyus ein, die das Bewirtschaften des Landes für sie übernehmen.
Würden Sie Michael wohl bitte einen neuen Anlasser an die oben stehende Anschrift schicken? Tatsache ist, dass das angrenzende Dorf genau das gleiche Problem hat. Schicken Sie also zwei Anlasser und ein anständiges Sortiment an Ersatzteilen. Sie haben auch kein Geld für Benzin. Können Sie mit einem Ihrer Freunde in Nairobi sprechen? Wir werden Ihnen auf ewig dankbar sein.
Einer der Ältesten starb letzte Woche. Die Angehörigen rieben seinen Körper mit Lammfett ein und machten ihm neue Sandalen, damit
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