Mehr als nur ein halbes Leben
passiert?«, fragt er.
»Ich fahre nicht gern nach links. Dann kann ich nicht sehen, wohin ich fahre, bevor wir schon dort sind, und das macht mir schreckliche Angst.«
»Keine Sorge. Ich passe schon auf, wohin wir fahren. Ich verspreche Ihnen, wir werden mit nichts und niemandem zusammenstoßen, okay?«
»Aber ich will nicht nach links fahren.«
»Okay. Dann gleiten wir jetzt einfach ein bisschen, und wenn Sie so weit sind, stellen Sie sich auf die Fersen und fahren nach rechts.«
Er stößt rückwärts gegen die Fahrerstange, und wir beginnen, gemeinsam den Hügel hinunterzugleiten. Nach ein paar Sekunden stelle ich mich auf die Fersen, hocke mich über die imaginäre Toilette, und wir fahren nach rechts. Dann bringe ich meine Hüfte wieder in die neutrale Position, und wir gleiten vorwärts. Ich beschließe, es noch einmal zu versuchen. Hocke, Fersen, neutral, vorwärts. Hocke, Fersen, neutral, vorwärts.
»Super, Sarah! Sie fahren Snowboard!«
Wirklich? Ich lockere meine Konzentration, denke nicht mehr verbissen an die einzelnen Schritte dessen, was ich tue, sondern beginne allmählich, das Gesamtbild zu sehen. Gleiten, wenden, gleiten. Gleiten, wenden, gleiten.
»Ich fahre Snowboard!«
»Wie fühlen Sie sich?«, fragt er.
Wie fühle ich mich? Obwohl Mike mein Gleichgewicht hält und meine Geschwindigkeit steuert, entscheide ich selbst, wann wir wenden und wann wir bergab fahren. Ich fühle mich frei und unabhängig. Und obwohl ich mich an einer Behindertenstange festhalte und normale Snowboards keine Behindertenstangen haben, fühle ich mich nicht anormal oder behindert. Mit einem Neglect zu laufen ist so anstrengend und abgehackt; es kostet mich so viel Kraft, mich auch nur ein paar erbärmliche Meter weit zu schleppen. Aber während wir auf unseren Snowboards den Hügel hinuntergleiten, fühle ich mich so flüssig, anmutig und natürlich. Ich fühle die Sonne und die Brise auf meinem Gesicht. Ich fühle Freude.
Am Fuß des Hügels kommen wir zum Stehen, noch immer einander zugewandt. Ich sehe in Mikes lächelndes Gesicht und entdecke mein Spiegelbild in seiner polarisierenden Sonnenbrille. Ich zeige genauso aufgeregt die Zähne wie er. Wie fühle ich mich? Ich fühle mich, als hätte Mike einen riesigen Stein durch die gläserne Wand meiner Vorurteile geschleudert, sie genau in der Mitte getroffen und meine Angst zu einer Million glitzernder Scherben rings um mich im Schnee zertrümmert. Ich fühle mich befreit und über die Maßen dankbar.
»Ich will das gleich noch mal machen!«
»Na super! Weiter geht’s!«
Jetzt, wo wir auf flachem Gelände sind, springt Mike mit einem Stiefel aus der Bindung und zieht mich an der Fahrerstange hinüber zum Magic Carpet. Weil er zum NEHSA gehört, können wir gleich vorgehen und die ganze Schlange überspringen.
»Mommy! Mommy!«
Es ist Lucy, die neben Bob vor uns in der Schlange steht. Und Charlie ist bei ihnen. Mike zieht mich neben sie, und ich stelle ihn meiner Familie vor.
»Sieh dich einer an!«, sagt Bob, verblüfft, mich zu sehen, aber strahlend, ohne eine Spur von Enttäuschung oder Verurteilung in seinen Worten oder Augen, in denen ich immer seine Aufrichtigkeit erkennen kann.
»Sieh mich einer an!«, sage auch ich, platzend vor kindlichem Stolz. »Ich bin ein Snowboarder, genau wie Charlie!«
Charlie mustert mich von Kopf bis Fuß, um den Wahrheitsgehalt dieser Aussage zu prüfen. Sein Blick verweilt auf Mikes Hand, die in ihrem Handschuh auf meiner Fahrerstange ruht, und er überlegt, ob meine Erklärung einer Einschränkung bedarf, ob meine Begeisterung eine Realitätsprüfung benötigt.
»Cool!«, meint er.
»Das war eben ihre erste Abfahrt, und sie war richtig toll. Sie ist ein Naturtalent«, lobt Mike.
»Wir wollten vor dem Mittagessen noch eine Abfahrt machen«, sagt Bob. »Könnt ihr euch zu uns stellen?«
»Können wir uns hier einreihen?«, frage ich.
»Na klar«, antwortet Mike und zieht mich hinter Lucy in die Schlange.
Wir fahren mit dem Magic Carpet hoch und treffen uns oben wieder.
»Fertig?«, fragt Mike.
Ich nicke. Er lehnt sich zurück, und wir beginnen zu gleiten. Gleiten, wenden, gleiten. Ich lächele, während wir Snowboard fahren, weil ich weiß, dass Bob und die Kinder weiter hinten zusehen, und weil ich weiß, dass Bob vermutlich ebenfalls lächelt. Ich bin am oberen Ende des Rabbit Run statt auf dem Gipfel, und ich stehe auf einem Behinderten-Snowboard statt auf Skiern, aber nichts an dieser ganzen Erfahrung ist
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