Mehr als nur ein halbes Leben
friedlich. Das Vor-dem-Unfall-Ich ist nicht allzu begeistert von dieser Idee, aber es stemmt sich auch nicht dagegen. Und Bob ist nicht hier, um sein Gewicht in die Waagschale zu werfen. Daher liegt die Entscheidung allein bei mir.
»Okay, versuchen wir’s.«
Mike zieht mich an der Fahrerstange auf den Magic-Carpet-Lift, und wir gleiten – beide auf unseren Snowboards – die leichte, aber stete Anhöhe der Rabbit Lane hoch. Der Magic-Carpet-Lift ist wie ein Fließband, und die Leute darauf – hauptsächlich kleine Kinder, ein paar Eltern, ein paar Lehrer, Mike und ich – erinnern mich an Gepäckstücke am Flughafen oder Lebensmittel im Supermarkt, die auf einem schwarzen Gummiband fahren und darauf warten, gescannt zu werden.
Ich halte nach Bob und Lucy Ausschau. Ich will, dass die beiden mich sehen, und bete gleichzeitig, sie mögen es nicht tun. Was wird Bob denken, wenn er mich auf einem Behinderten-Snowboard sieht? Wird er denken, dass ich mich mit meinem Neglect abgefunden und aufgegeben habe? Habe ich aufgegeben? Ist das Anpassen oder Scheitern? Hätte ich warten sollen, bis ich gesund genug bin, um Ski zu fahren, wie ich es früher getan habe? Was, wenn es nie dazu kommt? Habe ich denn nur die Wahl, entweder in dieser Nische in der Skihütte zu sitzen oder Ski zu fahren, wie ich es vor dem Unfall getan habe, ohne irgendetwas dazwischen? Was, wenn jemand von der Arbeit übers Wochenende hier ist und mich sieht? Was, wenn Richard hier ist und sieht, wie ich mich an einer Haltestange festklammere, angeleitet von einem Lehrer des Behindertensportverbands Neuengland? Ich will nicht, dass mich irgendjemand so sieht.
Was tue ich hier eigentlich? Vielleicht war das eine wirklich impulsive und wirklich schlechte Entscheidung. Während wir uns dem Gipfel nähern – der eigentlich nicht der Gipfel von irgendetwas ist, sondern nur das willkürlich gewählte Ende des Magic-Carpet-Lifts, das von der Nische in der Hütte aus zu sehen ist, in der ich sicher und behütet gesessen habe, bevor ich meine Nase hier hineinstecken musste –, wird das nervöse Geplapper in meinem Kopf immer lauter und heftiger und entwickelt sich zu einer echten Panik.
Ich habe es mir anders überlegt. Ich will das nicht. Ich will nicht Snowboard fahren. Ich will zurück in meine Nische und an meinen Wortsuchrätseln arbeiten. Ich will am Fuß des Hügels sein. Aber jetzt sind wir schon am oberen Ende des Lifts angelangt, und es gibt keine Magic-Carpet-Fahrt hinunter. Und anders als die Kinder, die aus ihren eigenen berechtigten oder irrationalen Gründen ausflippen und nicht mehr weiterwollen, kann ich nicht einfach beschließen, mein Brett liegen zu lassen und das kurze Stück zur Talstation zu Fuß hinunterzulaufen. Mein Gehstock liegt unten im NEHSA-Gebäude, und ich kann mir nicht vorstellen, dass Mike sich bereiterklären würde, mir zu Fuß den Hügel hinunterzuhelfen, ohne dass ich zumindest einen ernsthaften Versuch mit dem Snowboard unternommen habe.
Mike reißt mich zur Seite, damit ich am Ende des Fließbands keine Massenkarambolage verursache. Dann dreht er sich zu mir um und legt seine Hände außen neben meine auf die Fahrerstange.
»Fertig?«, fragt er, aufgeregt die Zähne zeigend.
»Nein.« Ich beiße meine zusammen, während ich versuche, nicht in Tränen auszubrechen.
»Na klar sind Sie es. Gleiten wir erst mal nur ein bisschen vorwärts.«
Er beugt sich talwärts vor, und wir setzen uns in Bewegung. Ob es mir gefällt oder nicht (und es gefällt mir eindeutig nicht ), ich bin im Begriff, Snowboard zu fahren.
»Sehr gut, Sarah! Wie fühlt es sich an?«
Wie fühlt es sich an? Es fühlt sich an, als ob Aufregung und Angst in meiner Brust umherwirbeln wie Wäscheteile in einem Trockner. In jeder Sekunde werde ich zuerst von dem einen und dann von dem anderen Gefühl überwältigt.
»Ich weiß nicht.«
»Versuchen wir mal abzubiegen. Denken Sie daran: in den Wald pinkeln, um nach links zu fahren, sich über die Toilette hocken, um nach rechts zu fahren. Nach vorn auf die Zehen, nach hinten auf die Fersen. Versuchen wir es erst einmal vorwärts.«
Ich schiebe die Hüfte vor, und wir beginnen nach links zu fahren. Und das fühlt sich entsetzlich falsch an. Meine Knie blockieren, meine Hüfte versteift sich über den Oberschenkeln, und ich stehe komplett aufrecht da. Ich verliere jede Kontrolle über mein Gleichgewicht, aber dann spüre ich, wie Mike mich korrigiert und verhindert, dass ich stürze.
»Was ist
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