Mehr als nur ein halbes Leben
Surren und dem beigen Vorhang. Und – irgendwo hinter dem Vorhang an der Wand – den wundervollen Genesungskarten von den Kollegen.
ACHTES KAPITEL
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»Was ist los, Sarah, wollen Sie Ihr Mittagessen nicht?«, fragt die Schwester.
Ich starre schon seit einer ganzen Weile auf einen weiteren Teller Hühnersuppe mit Nudeln, während ich mich frage, wie ich sie in Angriff nehmen soll. Sie riecht gut. Ich bin sicher, sie riecht unendlich viel besser, als sie schmecken wird, und inzwischen sieht sie ein bisschen abgestanden aus, aber ich bin am Verhungern. Ich will sie essen.
»Ich habe keinen Löffel.«
Die Schwester sieht auf mein Tablett und dann wieder zu mir hoch.
»Wie wär’s mit dem Brownie?«, fragt sie.
Ich sehe auf das Tablett, dem ich Gesellschaft geleistet habe, und dann wieder zu ihr hoch.
»Was für ein Brownie?«
Wie aus heiterem Himmel hält die Schwester auf einmal einen Löffel in der Hand und legt einen in Zellophan verpackten Brownie auf das Tablett, neben den Teller mit Suppe. Ich starre sie an, als würde sie gleich auch noch einen Vierteldollar hinter meinem Ohr hervorzaubern.
»Haben Sie das nicht auf Ihrem Tablett gesehen?«, fragt sie und reicht mir den Löffel.
»Das war nicht auf meinem Tablett.«
»Aber jetzt sehen Sie es«, sagt sie, eher schlussfolgernd als fragend.
»Mhm.«
Ich schlürfe einen Löffel Brühe. Ich hatte recht: Die Suppe ist Spülwasser. Also wende ich mich dem Brownie zu. Schokolade schmeckt immer genießbar.
»Ich komme in ein paar Minuten mit Dr. Kwon wieder«, sagt sie.
Okay. Könnten Sie dann auch noch ein Glas Milch für mich herbeizaubern?
Ein asiatischer Mann in einem weißen Laborkittel steht am Fußende meines Betts, ein Klemmbrett in der Hand, und klickt immer wieder mit seinem Kugelschreiber, während er die Seiten meines – wie ich vermute – Krankenblatts überfliegt. Sein Gesicht ist unbehaart, glatt, gut aussehend. Seinem Gesicht nach könnte er achtzehn sein. Aber ich nehme an, das hier ist Dr. Kwon, mein Arzt, und in dem Fall sollte er besser dem Alter trotzende Gene haben und mindestens dreißig sein.
»Sarah, schön, Sie wach zu sehen. Wie fühlen Sie sich?«
Angespannt, müde, verängstigt.
»Gut.«
Er klickt seinen Stift an und schreibt etwas auf. Oh, ich werde ausgefragt. Ich sollte mich besser konzentrieren. Egal, worauf er mich testet, ich will eine Eins bekommen. Ich will nach Hause. Ich will zurück auf die Arbeit.
»Was würden Sie sagen, wie sieht’s mit mir aus?«, frage ich.
»Gut. Es sieht alles ganz gut aus in Anbetracht der Umstände. Sie wurden in einem ziemlich üblen Zustand eingeliefert. Sie hatten eine Schädelimpressionsfraktur und mehrere Gehirnblutungen. Wir mussten Ihren Schädel öffnen und eine Drainage legen. Wir konnten alles entfernen, aber durch die Blutungen und die Entzündung haben Sie doch einigen Schaden erlitten. Die Computertomographie Ihres Schädels hat gezeigt, dass Sie ganz gut Federn gelassen haben. Aber Sie haben Glück, dass die Verletzung auf der rechten und nicht auf der linken Seite ist, sonst würden Sie jetzt vermutlich nicht mit mir reden.«
Ich glaube, seine Antwort hat mit »gut« angefangen, aber es fällt mir schwer, aus irgendeinem der Worte, die er danach gesagt hat, so etwas wie »gut« herauszuhören, selbst als ich sie in Gedanken noch einmal wiederhole. »Gehirnschaden.« Das klingt für mich wie das Gegenteil von »gut«. Ich glaube, er hat auch noch etwas von »Glück« gesagt. Mir wird schwindelig.
»Können Sie meinen Mann holen? Ich will, dass er das mit mir zusammen hört.«
»Ich bin hier«, sagt Bob.
Ich drehe mich nach ihm um, aber er ist nicht da. Die einzigen Leute im Raum sind ich und der gut aussehende Dr. Kwon.
»Warum siehst du zu diesem Stuhl? Ich bin hier drüben«, sagt Bob.
»Bob? Ich kann dich nicht finden.«
»Stellen Sie sich auf meine andere Seite«, bittet ihn Dr. Kwon.
»Da bist du ja!«, staune ich, als würden wir eine Runde Guck-guck spielen.
Seltsam, dass ich ihn noch vor einer Sekunde nicht sehen konnte. Vielleicht ist mein Sehvermögen durch den Unfall beeinträchtigt. Vielleicht stand er zu weit hinten. Dr. Kwon verstellt mein Bett, sodass ich jetzt aufrecht sitze.
»Sarah, konzentrieren Sie sich auf meine Nase und sagen Sie mir, wann Sie meinen Finger sehen.«
Er hält seinen Zeigefinger in der Nähe meines Ohrs hoch.
»Ich sehe ihn.«
»Und jetzt?«
»Ja.«
»Jetzt?«
»Nein.«
»Und
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