Mehr als nur ein halbes Leben
jetzt?«
»Nein.«
»Ist sie blind?«, fragt Bob.
Natürlich bin ich nicht blind. Was ist das denn für eine verrückte Frage? Dr. Kwon leuchtet mir mit einer Lampe in die Augen. Ich studiere seine kaffeeschwarzen Augen so, wie er irgendetwas an meinen studiert.
»Folgen Sie meiner Lampe. Gut. Nein, die Areale Ihres Gehirns, die für das Sehvermögen zuständig sind, wurden nicht beschädigt, und Ihre Augen sehen gut aus.«
Er nimmt ein Blatt Papier von seinem Klemmbrett, legt es auf meinen Tabletttisch, rollt den Tisch vor mich und reicht mir einen Stift. Groß- und Kleinbuchstaben stehen kreuz und quer auf dem Blatt.
»Sarah, können Sie alle As für mich einkreisen?«
Ich tue es.
»Sind Sie sicher, dass Sie alle gefunden haben?«, fragt er.
Ich überprüfe meine Arbeit.
»Ja.«
Er nimmt noch ein Blatt.
»Können Sie durch die Mitte jeder dieser waagerechten Linien eine senkrechte Linie ziehen?«
Ich teile die neun Linien jeweils in zwei Hälften. Dann blicke ich auf, bereit, das nächste Rätsel zu lösen.
»Fertig? Okay, räumen wir dieses Tablett aus dem Weg. Können Sie jetzt beide Arme ausstrecken, mit den Handflächen nach oben?«
Ich tue es.
»Strecken Sie beide Arme aus?«
»Ja.«
»Ist sie gelähmt?«, fragt Bob.
Schon wieder so eine unsinnige Frage! Was soll das denn? Hat er denn nicht gesehen, wie ich mich eben bewegt habe? Dr. Kwon klopft mit einem kleinen Gummihammer meinen Arm und mein Bein ab.
»Nein, sie hat eine leichte Schwäche auf der linken Seite, aber das sollte sich mit der Zeit und mit der Reha legen. Sie hat einen linksseitigen Neglect. Das ist ein durchaus häufig auftretendes Krankheitsbild bei Patienten, die eine Schädigung der rechten Gehirnhälfte erlitten haben, im Allgemeinen aufgrund einer Gehirnblutung oder eines Schlaganfalls. Ihr Gehirn beachtet nichts auf ihrer linken Seite. Links existiert für sie nicht.«
»Was meinen Sie damit, ›es existiert nicht‹?«, fragt Bob.
»Genau das. Für sie ist es gar nicht da. Sie wird Sie nicht bemerken, wenn Sie links von ihr stehen, sie wird das Essen auf der linken Seite ihres Tellers nicht anrühren, und sie wird vielleicht nicht einmal glauben, dass ihr linker Arm und ihr linkes Bein zu ihr gehören.«
»Weil Links für sie nicht existiert?«, fragt Bob.
»Ganz recht«, bestätigt Dr. Kwon. »Ich meine, ja.«
»Wird es denn wiederkommen?«, fragt Bob.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Bei manchen Patienten erleben wir, dass die Symptome nach den ersten Wochen von selbst verschwinden, wenn die Entzündung zurückgeht und das Gehirn heilt. Aber bei anderen bleiben sie bestehen, und dann kann man nur lernen, damit zu leben.«
»Ohne Links«, sagt Bob.
»Ja.«
»Sie scheint gar nicht zu bemerken, dass es fehlt«, stellt Bob fest.
»Ja, das trifft auf die meisten Patienten in der akuten Phase unmittelbar nach der Verletzung zu. Sie ist sich ihres fehlenden Bewusstseins größtenteils nicht bewusst. Ihr ist nicht bewusst, dass die linke Seite von allem fehlt. Für sie ist alles da, und alles ist normal.«
Eines gewissen fehlenden Bewusstseins bin ich mir vielleicht nicht bewusst, aber Dr. Kwon und Bob scheint nicht bewusst zu sein, dass ich noch immer hier bin.
»Weißt du, dass du eine linke Hand hast?«, fragt mich Bob.
»Natürlich weiß ich, dass ich eine linke Hand habe«, erwidere ich, peinlich berührt, weil er mir ständig diese albernen Fragen stellt.
Aber dann denke ich über diese alberne Frage nach. Wo ist meine linke Hand? Ich habe keine Ahnung. Oh mein Gott, wo ist meine linke Hand? Was ist mit meinem linken Fuß? Er fehlt ebenfalls. Ich wackele mit den Zehen des rechten Fußes. Dann versuche ich, dieselbe Botschaft an meinen linken Fuß zu senden, aber mein Gehirn schickt sie zurück an den Absender. Bedaure, Empfänger unbekannt verzogen.
»Bob, ich weiß, dass ich eine linke Hand habe, aber ich habe keine Ahnung, wo sie ist.«
NEUNTES KAPITEL
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Inzwischen liege ich seit zwölf Tagen im Krankenhaus, und ich wurde von der Intensivstation in die neurologische Abteilung des Krankenhauses verlegt. In den letzten paar Tagen war ich Dr. Kwons Lieblings-Versuchskaninchen. Bevor sie mich aus diesem erbärmlichen Zimmer in die Reha verlegen, will er mehr über den linksseitigen Neglect herausfinden. Er sagt, dass über dieses Krankheitsbild nicht viel bekannt ist – eine Neuigkeit, die ich mehr als nur leicht deprimierend finde. Aber vielleicht wird er durch mich ja irgendetwas Neues
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