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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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vermutlich in ein paar Wochen in der Schule basteln werden. Gott, ich vermisse die beiden.
    Ich zupfe den Watte-»Schnee« ab und gebe Rose Bescheid, als ich fertig bin.
    »Habe ich alle erwischt?«
    »Nein.«
    »Fast alle?«
    »Nein.«
    »Habe ich links irgendwelche erwischt?«
    Wo immer das auch sein mag.
    »Nein.«
    Seltsam, ich war mir ganz sicher, alle gefunden zu haben. Ich kann keine mehr auf mir spüren.
    »Augenblick«, sagt Bob, der auf dem Besucherstuhl gesessen und zugesehen hat.
    Bob hält sein iPhone hoch und sagt: »Cheese!«
    Er schießt ein Foto und zeigt mir das Display. Ich bin verblüfft. Auf dem Foto von mir auf dem Display bin ich von Kopf bis Fuß mit Wattebällchen bedeckt. Verrückt. Das muss meine linke Seite sein. Und da sind mein Arm und mein Bein. Ich bin über die Maßen erleichtert, dass sie noch immer da sind. Ich hatte schon angefangen zu glauben, sie seien mir amputiert worden und niemand hätte den Mut, es mir zu sagen.
    Dann bemerke ich meinen Kopf auf dem Foto. Er ist nicht nur mit Wattebällchen bedeckt, er ist auch nicht rasiert. Mein Haar – abgesehen davon, dass es fettig und verfilzt aussieht – ist genau so, wie ich es in Erinnerung habe. Ich strecke die Hand nach oben aus, um es zu berühren, aber ich spüre nur meinen kahlen Kopf und die Erhebungen, die meine OP-Narben gebildet haben (ein Neurologe des Krankenhauses hat die Klammern vor ein paar Tagen entfernt) und die sich anfühlen wie Brailleschrift. Dem Foto nach zu urteilen, habe ich einen vollen Haarschopf, aber nach dem, was meine Hand spürt, bin ich völlig kahl. Das ist einfach zu seltsam.
    »Habe ich noch Haare?«
    »Man hat Ihnen nur die rechte Seite rasiert. Auf der linken haben Sie noch immer alle Haare«, antwortet Rose.
    Ich starre das Bild an, während ich mit den Fingern über meine Kopfhaut fahre. Ich liebe meine Haare, aber das kann kein schöner Anblick sein.
    »Sie müssen den Rest auch abrasieren.«
    Rose sieht zu Bob hinüber, als wollte sie eine zweite Meinung einholen.
    »Das ist das kleinere Übel, Bob, meinst du nicht auch?«
    Er sagt nichts, aber das Ausbleiben seiner Reaktion verrät mir, dass er mir beipflichtet. Und ich weiß, dass es ungefähr so ist, als würde ich ihn fragen: »Was ist dir lieber, Kirche oder Mall?« Er schwärmt für beides nicht besonders.
    »Können wir es jetzt gleich machen, bevor ich kneife?«
    »Ich hole den Rasierer«, sagt Rose.
    Während wir auf Rose warten, steht Bob da und guckt auf seinem iPhone nach seinen E-Mails. Ich habe nicht mehr nach meinen E-Mails gesehen, seit ich hier bin. Man lässt mich nicht. Mein Herz rast allein schon bei dem Gedanken daran. In meinem Posteingang müssen tausend E-Mails auf mich warten. Vielleicht hat Jessica ja auch alles an Richard oder Carson weitergeleitet. Das wäre nur sinnvoll. Wir sind mitten in der Rekrutierung, meiner wichtigsten Zeit des Jahres. Ich muss zurück, um dafür zu sorgen, dass wir die richtigen Leute bekommen, und sie dort einsetzen, wo sie am besten geeignet sind.
    »Bob, wohin bist du gegangen?«
    »Ich bin hier drüben am Fenster.«
    »Okay, Schatz, du könntest genauso gut in Frankreich sein. Kannst du hierherkommen, wo ich dich sehen kann?«
    »Entschuldige.«
    Rose kommt mit dem Elektrorasierer wieder.
    »Sind Sie sich sicher?«, fragt sie.
    »Ja.«
    Der Rasierer summt gerade ein paar Sekunden, als ich meine Mutter ins Zimmer kommen sehe. Sie wirft einen Blick auf mich und stöhnt auf, als würde sie Frankenstein erblicken. Dann schlägt sie beide Hände vor den Mund und beginnt zu hyperventilieren. Es lebe die Hysterie.
    »Wann hast du es ihr gesagt?«, frage ich Bob.
    »Vor zwei Tagen.«
    Ich bin beeindruckt, dass sie es nach zwei Tagen hierhergeschafft hat. Sie verlässt ihr Haus nicht gern, und sie bricht in Panik aus, wenn sie das Cape verlassen muss. Es ist mit dem Alter schlimmer geworden. Ich glaube nicht, dass sie auf der anderen Seite der Sagamore Bridge gewesen ist, seit Lucy geboren wurde. Linus hat sie noch gar nicht gesehen.
    »Oh mein Gott, oh mein Gott, liegt sie im Sterben?«
    »Ich liege nicht im Sterben, ich bekomme die Haare geschnitten.«
    Sie sieht weitaus älter aus, als ich sie in Erinnerung habe. Sie färbt sich ihr Haar nicht mehr kastanienbraun, sondern lässt es silbergrau werden. Und sie trägt jetzt eine Brille. Ihr Gesicht hängt schlaff herunter, als ob ihr Stirnrunzeln zu stark geworden ist und ihr ganzes Gesicht nach unten zieht.
    »Oh mein Gott, Sarah, dein

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