Mehr als nur ein halbes Leben
lernen, was das klinische Verständnis des Neglects voranbringt. Und vielleicht wird das dann auch mir helfen. Außerdem bin ich gern bereit zu kooperieren, weil für dieses Erforschen meines Zustands nur Fragen, Rätsel, Stift und Papier benötigt werden – keine Nadeln, Blutabnahmen oder Computertomographie des Schädels. Und ich bin dadurch eine ganze Weile beschäftigt – eine Zeit, die ich sonst ausschließlich damit verbringen würde, mir zwanghaft Sorgen um die Arbeit zu machen, Bob und die Kinder zu vermissen und auf die Neonlampe und die abblätternde Farbe an der Decke zu starren. Daher verbringen Dr. Kwon und ich viel wertvolle Zeit miteinander.
Während ich Fragen beantworte und Wörter suche, versuche ich es Dr. Kwon gleichzutun und es seltsam faszinierend anstatt hoffnungslos beängstigend zu finden, dass ich auf der linken Seite nie irgendetwas bemerke oder mit einbeziehe. Mir ist nicht einmal bewusst, dass ich irgendetwas ignoriert habe, bis Dr. Kwon, einer meiner Therapeuten oder eine Schwester mir sagen, was ich übersehen habe. Und dann, wenn ich das riesige Ausmaß dessen, was für mich nicht da ist, begreife, breche ich nicht etwa in ein Meer von Tränen aus oder jammere: »Das ist schlimm, das ist richtig, richtig schlimm«, sondern zwinge mich, das Positivste zu denken, das mir einfällt. Im Allgemeinen ist das so etwas wie: Wow! Es kommt mir vor, als würde mir der Herr der schwarzen Löcher einen Schlüssel zu seinem Reich anbieten, während ich mein Bestes versuche, um mich von diesen Löchern fernzuhalten.
Die Tests, bei denen man zeichnen muss, machen mir Spaß. Es scheint eine Ewigkeit her zu sein, dass ich immer und überall einen Künstler-Skizzenblock dabeihatte. Auf dem College war Betriebswirtschaft mein Hauptfach, aber ich hatte ebenso viele Kurse in Grafikdesign, Kunst und Kunstgeschichte belegt. Ich versuche mir vorzustellen, wo auf meinem überquellenden Dachboden diese Skizzenblöcke lagern könnten, aber ich kann sie nicht finden. Vielleicht sind sie auf der linken Seite. Ich hoffe, dass ich sie nicht weggeworfen habe.
Dr. Kwon bittet mich, eine Blume, eine Uhr, ein Haus, ein Gesicht zu zeichnen.
»Sie sind gut«, sagt er.
»Danke.«
»Haben Sie ein ganzes Gesicht gezeichnet?«
»Ja.«
Ich betrachte mein Bild voller Stolz und Liebe. Ich habe Lucy gezeichnet. Während ich ihre Züge bewundere, schleicht sich ein Zweifel in mein Bewusstsein.
»Oder nicht?«, frage ich.
»Nein. Wie viele Augen haben Menschen?«
»Zwei.«
»Haben Sie zwei gezeichnet?«
Ich betrachte mein Bild von Lucy.
»Ich denke schon.«
Er klickt seinen Stift an und schreibt. Er schreibt irgendetwas Negatives über meine Zeichnung von Lucy-Gänschen, und das sollte niemand tun. Ich schiebe ihm das Blatt Papier hin.
»Zeichnen Sie ein Gesicht«, fordere ich.
Er zeichnet ein einfaches Smiley, in zwei Sekunden erledigt.
»Haben Sie ein ganzes Gesicht gezeichnet?«, frage ich.
»Ja.«
Ich klicke meinen Stift so nachdrücklich wie möglich an, hoch in der Luft, und tue dann, als würde ich meine Beurteilung auf ein unsichtbares Klemmbrett schreiben.
»Was schreiben Sie da, Dr. Nickerson?«, gibt er sich tief besorgt.
»Na ja, haben Gesichter nicht Ohren, Augenbrauen und Haare? Ich fürchte, Sie haben eine sehr ernste, aber faszinierende Erkrankung, Doktor.«
Er lacht und zeichnet noch eine herausgestreckte Zunge zu der unteren Linie, die den Mund darstellt.
»Stimmt, stimmt. Unser Gehirn benötigt normalerweise nicht jede einzelne Information, um ein Ganzes zu begreifen. Nehmen wir zum Beispiel unseren blinden Fleck. Wir alle haben einen blinden Fleck an der Stelle, wo unser Sehnerv die Retina verlässt, aber normalerweise bemerken wir diese Leerstelle in unserem Gesichtsfeld gar nicht, weil unser Gehirn das Bild ergänzt«, doziert Dr. Kwon. »Genau das tun Sie vermutlich auch. Sie sind allein auf die rechte Hälfte angewiesen, um daraus ein Ganzes zu machen, und Ihr Gehirn füllt die Lücken unbewusst aus. Wundervolle Beobachtung. Wirklich faszinierend.«
Auch wenn ich mich über seine Aufmerksamkeit und seine Schmeicheleien freue, weiß ich doch, dass das, was für einen übereifrigen Arzt faszinierend ist, von der Welt außerhalb dieses Zimmers vermutlich als sonderbar und unheimlich wahrgenommen werden wird. Ich will beide Augen Lucys zeichnen. Ich will Charlie mit beiden Armen an mich drücken, beide Füße von Linus küssen und alles von Bob sehen. Und ich kann es mir nicht
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