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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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erlauben, nur die rechte Hälfte einer Excel-Tabelle zu lesen. Mein Gehirn muss die linke Seite wieder sehen – wo immer das auch sein mag – und muss aufhören, sie bloß zu vermuten. Vermutungen bringen allen nur viel Ärger.
    Zum Mittagessen gibt es heute Hähnchen mit Reis und Apfelsaft. Das Hähnchen braucht mehr Salz, der Reis Sojasauce, und der Apfelsaft könnte einen großzügigen Schuss Wodka vertragen. Aber offenbar habe ich hohen Blutdruck, und ich darf weder Salz noch Alkohol zu mir nehmen. Doch ich esse und trinke jedes fade Essen, das man mir bringt. Schließlich muss ich wieder zu Kräften kommen. Morgen werde ich in die Rehaklinik verlegt, und nach allem, was ich höre, wartet dort viel Arbeit auf mich. Ich kann es kaum noch erwarten. Sosehr ich Dr. Kwon auch mag, dieses Versuchskaninchen will für immer aus seinem Käfig.
    Dr. Kwon kommt herein, um vor seiner Visite nach mir zu sehen.
    »Wie war Ihr Mittagessen?«, fragt er.
    »Gut.«
    »Haben Sie das Messer benutzt, um Ihr Hähnchen zu schneiden?«
    »Nein, ich habe die Längsseite der Gabel benutzt.«
    Klick. Er notiert sich diese faszinierende Information.
    »Haben Sie alles aufgegessen?«
    »Jaaaa …«
    »Sind Sie satt?«
    Ich zucke mit den Schultern. Das bin ich nicht, aber ich will keinen Nachschlag.
    »Was, wenn ich Ihnen sagen würde, dass auf Ihrem Teller ein Riegel Schokolade liegt?«, fragt er lächelnd.
    Er gibt sich Mühe, das muss ich ihm lassen. Schokolade ist bei mir eindeutig der richtige Köder. Aber ich brauche keinen Ansporn. Ich bin hoch motiviert. Es ist nicht so, als ob ich nicht versuchen würde zu sehen, was er sieht.
    »Ich sehe ihn nicht.«
    Vielleicht kann ich ihn spüren. Ich wische mit der flachen Hand über den leer gegessenen weißen Teller. Da ist nichts. Nicht ein Reiskorn, nicht ein Stück Schokolade.
    »Versuchen Sie, den Kopf nach links zu drehen.«
    Ich starre auf den Teller.
    »Ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Ich weiß nicht, wie ich dorthin kommen soll, wo Sie mich haben wollen. Da ist nichts, wohin ich mich drehen oder was ich ansehen könnte. Es ist, als ob Sie mir sagen würden, ich soll mich umdrehen und die Mitte meines Rückens ansehen. Ich glaube, dass die Mitte meines Rückens existiert, aber ich habe keine Ahnung, wie ich sie sehen soll.«
    Er notiert sich das und nickt, während er schreibt.
    »Mit dem Verstand begreife ich, dass es eine linke Seite des Tellers gibt, aber sie ist kein Teil meiner Wirklichkeit. Ich kann die linke Seite des Tellers nicht ansehen, weil sie nicht da ist. Da ist keine linke Seite. Mir kommt es vor, als ob ich den ganzen Teller ansehe. Ich weiß nicht, es ist frustrierend, ich kann es nicht beschreiben.«
    »Ich denke, das haben Sie eben getan.«
    »Aber ist dort denn wirklich Schokolade?«
    »Aber ja, die Sorte, die Bob gestern gekauft hat.«
    Lake Champlain. Die beste. Ohne zu verstehen, wie das klappen soll, fasse ich den oberen Rand des Tellers an und drehe ihn nach unten. Trara! Mandel-Butter-Crunch. Bob ist der Beste!
    »Das war geschummelt!«, sagt Dr. Kwon.
    »Absolut fair«, halte ich dagegen, während ich einen köstlichen Bissen kaue.
    »Okay, aber beantworten Sie mir Folgendes: Woher ist diese Schokolade gekommen?«
    Ich weiß, er will, dass ich sage: »Von links.« Aber es gibt kein Links.
    »Vom Himmel.«
    »Sarah, denken Sie nach. Sie kam von der linken Seite des Tellers, die jetzt rechts ist. Und die rechte – die Sie eben gesehen haben, sodass Sie wissen, dass sie existiert – ist jetzt links.«
    Er hätte genauso gut irgendetwas von Pi mal der Quadratwurzel von unendlich sagen können. Es ist mir egal, wohin die rechte Seite des Tellers verschwunden ist. Ich esse gerade meine Lieblingsschokolade, und ich komme morgen in die Reha.
    Seit dem Unfall sind zwei Wochen vergangen, und Bob nimmt sich oft frei, um bei mir zu sein, was nicht gut für seine beruflichen Überlebenschancen sein kann, wenn die nächste Entlassungsrunde ansteht. Ich habe ihm gesagt, dass er nicht so oft hier sein sollte. Und er hat mir befohlen, still zu sein und mir keine Sorgen um ihn zu machen.
    Mein Lieblingstest – neben dem Zeichnen der Bilder – ist der sogenannte Fluff-Test. Rose, die Physiotherapeutin, klebt mir Wattebällchen überall auf den Körper und fordert mich dann auf, sie zu entfernen. Ich liebe diesen Test, weil ich mir vorstelle, dass ich dabei wie eins von Charlies oder Lucys Kunstprojekten aussehe, wie die Schneemänner, die sie

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