Mehr als nur ein halbes Leben
mir vor, als würde ich einem seltenen Schmetterling mit einem Netz nachstellen. Das Problem ist, dass ich offenbar außerstande bin, zwei Dinge gleichzeitig zu tun. Ich kann die Rentiersocke sehen, oder ich kann meine rechte Hand benutzen. Wenn ich die Socke sehe, dann ist sie, sobald ich versuche, sie mit der rechten Hand einzufangen, verschwunden.
Ich habe die Rentiersocke wieder im Blick und beschließe, mich jetzt mit voller Wucht auf sie zu stürzen. Ich halte den Atem an und versuche mit aller Entschlossenheit, meine Hose wie ein Lasso über meinen Fuß zu werfen. Aber ich verfehle die Socke, die ganze Entschlossenheit bringt meinen Gleichgewichtssinn durcheinander, und ich beginne, aus dem Rollstuhl zu kippen. Während ich nach vorn falle und begreife, dass ich mich nicht bremsen kann, begreife ich auch, dass mir keine Zeit mehr bleibt, die Hände nach vorn zu reißen, um meinen Sturz abzufangen. Meine rechte Hand ist noch immer mit dem Projekt linkes Hosenbein beschäftigt, und wer weiß, wo meine linke Hand ist?
Meine Mutter schreit auf und fängt mich, bevor ich mit dem Kopf auf den schmuddeligen Linoleumboden aufschlage. Gott sei Dank. Das Letzte, was ich jetzt brauche, ist noch eine Kopfverletzung – vom Hose-Anziehen.
Meine Mutter drückt mich wieder gegen die Lehne des Rollstuhls, schnappt sich meinen linken Fuß und hebt ihn hoch, als wäre ich ihre Stoffpuppe.
»Autsch, so gelenkig bin ich nicht«, beschwere ich mich.
»Entschuldige. Versuch es zurückgelehnt.«
»Du sollst mir doch nicht helfen.«
»Wenn ich dir nicht helfen würde, würdest du jetzt auf dem Boden liegen.«
Da hat sie allerdings recht.
»Gut, aber nicht so hoch. Halt ihn da, da kann ich ihn sehen.«
Schließlich schaffe ich es, meinen Rentierfuß und das damit verbundene Bein durch meine Hose zu fädeln. Ich schwitze, und ich will wirklich gern eine Pause einlegen, aber dann sehe ich mich im Spiegel – die Jeans bis zu den Knien hochgezogen und von der Hüfte aufwärts nackt. Ich muss weitermachen.
Dann hilft mir meine Mutter, mein Gesäß anzuheben und damit in die Hose zu rutschen. Das dauert mehrere Minuten. Dann zupft sie vorn an meinem Bund.
»Diese Hose passt dir nicht«, stellt sie fest.
»Ich weiß. Zieh einfach den Reißverschluss zu.«
Sie versucht es noch einmal, knurrend, um mir zu zeigen, wie sehr sie sich anstrengt.
»Ich kann nicht.« Sie sieht mich an, als wäre ich ein Koffer, der zu vollgestopft ist und sich nicht schließen lässt.
»Versuch es jetzt«, fordere ich sie auf.
Ich hole einmal tief Luft und versuche, meinen Bauchnabel bis zur Wirbelsäule einzuziehen.
»Du brauchst größere Hosen«, sagt meine Mutter und gibt auf.
»Ich brauche keine größeren Hosen. Ich muss abnehmen.«
»Willst du neben all den Dingen, die du hier tun musst, jetzt auch noch mit einer Diät anfangen? Das ist doch Wahnsinn. Ich werde dir eine größere Hose kaufen.«
Ich spüre, wie sie nach dem Etikett sucht, spüre ihre kalten Finger in meinem Kreuz.
»Lass das.«
»Sarah, du solltest dich so akzeptieren, wie du bist.«
»Aber so bin ich. Das ist meine Größe. Ich werde nicht dicker werden.«
»Aber du bist dicker geworden.«
Ich ziehe noch einmal den Bauch ein und zerre an dem Reißverschluss, ohne Erfolg.
»Du musst anfangen, deine Situation zu akzeptieren.«
»Hm. Reden wir jetzt von meiner Jeans oder irgendetwas anderem?«
Ausgerechnet sie kann doch unmöglich glauben, dass sie mir einen Vortrag darüber halten kann, dass ich meine Situation akzeptieren muss. Wann hat sie denn je ihre Situation akzeptiert? Wann hat sie denn je mich akzeptiert? Zu meiner Verblüffung werde ich auf einmal so von heißen Emotionen überflutet, als hätten all die komplizierten Gefühle, die ich je meiner Mutter gegenüber hatte, unbeachtet und unbehelligt irgendwo gelegen – wie eine dicke Staubschicht auf einem Tisch auf dem Dachboden, seit dreißig Jahren unberührt –, und als hätte sie eben einmal über die Oberfläche gepustet und damit jedes Körnchen Verletztheit in stürmische Bewegung versetzt.
»Nur deine Hose«, sagt sie, als sie meine Aufregung spürt, und macht einen Rückzieher.
»Ich werde keine andere Größe tragen«, beharre ich, schwankend zwischen Kampf und Flucht, wobei Flucht nicht wirklich eine realistische Möglichkeit ist.
»Na schön.«
»Na schön.«
Ich starre das Spiegelbild meiner Mutter an, während ein emotionaler Tornado noch immer Energie in mir sammelt, und ich frage
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