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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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Gelegenheit, um alles aufzuholen. Und jetzt hör auf zu reden, damit ich dir die Zähne putzen kann.«
    Wegen der ganzen Entlassungen hat Bob zu wenig Mitarbeiter und zusätzlich zu seinem eigenen Job die Arbeit von drei anderen Angestellten übernommen. Ich staune, wie er das alles schafft, aber ich bin auch besorgt, wenn ich sehe, welchen Tribut es von ihm fordert. Bis auf die Zeit, in der er mir und den Kindern morgens vor der Schule und abends vor dem Schlafengehen hilft, und die paar Stunden jede Nacht, in denen er schläft, tut er nichts außer zu arbeiten, sodass er leicht auf einen Achtzehn-Stunden-Tag kommt. Er reibt sich völlig auf, und ich mache mir Sorgen, dass irgendwann nicht mehr viel von ihm übrig sein wird.
    Ich hebe die rechte Hand zum Zeichen, dass ich ausspucken muss. »Das heißt, du wirst lieber eine Woche lang unbezahlt arbeiten, als sie mit uns zu verbringen«, stelle ich fest.
    »Ich würde liebend gern bleiben, Sarah, aber ich muss tun, was ich kann, um diese Firma und meinen Job am Leben zu erhalten. Du weißt, dass ich das tun muss.«
    Jedes Mal, wenn meine Mutter zu Hause die Post hereinholt und ich den Stapel mit weißen Umschlägen auf dem Küchentresen sehe, wird das beängstigende düstere Loch in meinem Magen noch tiefer, düsterer und beängstigender. Selbst wenn Bob seinen Job und sein Gehalt retten kann – wenn ich nicht wieder zu arbeiten anfange, leben wir über unsere Verhältnisse. Die Rechnungen flattern ins Haus wie ein unerbittliches winterliches Schneegestöber, und wir werden allmählich eingeschneit. Und sollte Bob seinen Job verlieren, ohne einen neuen an Land ziehen zu können, bevor ich wieder bei Berkley arbeiten kann, dann werden wir ein paar düstere und beängstigende Entscheidungen treffen müssen. Mein Herz rast; es begreift das, was mein Verstand zu feige ist, sich vorzustellen.
    »Ich weiß. Ich verstehe dich ja. Ich wünschte nur, du könntest bleiben. Wann hatten wir beide denn das letzte Mal zur selben Zeit eine Woche frei?«, frage ich.
    »Ich weiß es nicht.«
    Wir hatten keinen einwöchigen Familienurlaub oder einen Kurzurlaub ohne die Kinder mehr seit der Zeit, als Lucy ein Baby war. Jedes Mal, wenn ich mir eine Woche frei nehmen konnte, konnte Bob es nicht. Und umgekehrt. Letztendlich haben wir meistens ein paar einzelne Urlaubstage zwischendurch genommen – und das aus Gründen, die man kaum als Urlaub bezeichnen konnte; im Allgemeinen, wenn Abby verreist war oder sich krankgemeldet hatte. Mit Ausnahme dieses Jahres – in dem ich meine ganzen freien Tage aufgebraucht habe, als ich in dem entzückenden Baldwin Resort Hotel im Bett gesessen habe – habe ich nie meinen gesamten Urlaub genommen. Bob braucht seinen auch nie vollständig auf. Und diesmal wird er sich nicht aufs nächste Jahr übertragen lassen; wenn er ihn nicht nimmt, dann ist er für immer verfallen.
    Zum ersten Mal erscheint mir dieses Verhalten als eine absurde Sünde. Unsere Arbeitgeber bezahlen uns dafür, dass wir jedes Jahr fünf Wochen zusammen verbringen können, fern von unseren Schreibtischen, Besprechungen und Terminen, und jedes Jahr sagen wir im Grunde: »Vielen Dank, aber wir möchten lieber arbeiten.« Was stimmt denn nicht mit uns?
    »Bist du sicher? Die Firma kann in dieser Woche nicht untergehen oder gerettet werden, sonst hätten sie sie für die Zeit nicht dichtgemacht. Du bist erschöpft. Bleib. Geh Ski fahren. Ruh dich aus. Eine freie Woche würde dir so guttun.«
    »Mund auf«, befiehlt er, Zahnseide um den Finger gewickelt und offenbar ein bisschen zu froh darüber, dass er die Macht hat, mich zum Schweigen zu bringen.
    Ich füge mich, und er beginnt, meine Zähne mit Zahnseide zu reinigen. Ausgeschlossen, dass ich das selbst tun könnte. Vermutlich hätte ich mehr Glück, wenn ich meinen rechten großen Zeh trainieren würde, ein Ende des Fadens zu halten, während ich mir mit der rechten Hand die Zähne reinige, als wenn ich meine linke Hand versuchte zu überreden, sich an dieser Aufgabe zu beteiligen. Aber ich bin nicht gewillt, um meiner Mundhygiene willen wie ein Schimpanse auszusehen. Daher reinigt Bob sie für mich, Gott sei Dank, sonst wäre ich vermutlich spätestens mit vierzig zahnlos.
    Ich betrachte seine Augen, die sich auf das Innere meines Mundes konzentrieren. Bevor ich Baldwin verließ, musste ich jedes Mal weinen, wenn ich mir vorstellte, wie Bob sich so um mich kümmert. Ich betrauerte den zu erwartenden Verlust unserer

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