Mehr als nur ein halbes Leben
nächsten zwanzig Minuten damit, vor dem Spiegel unterschiedliche Grimassen zu üben und Selbstgespräche zu führen. Deshalb können wir die Kinder nicht allein ins Bad schicken und erwarten, dass irgendeine Art von Mundpflege stattfinden wird.
Wir sorgen mit mündlichen Ermahnungen dafür, dass sie bei der Sache bleiben. Putz dir die obere Reihe. Auch die hinteren Ecken. Das war zu schnell, du bist noch nicht fertig . Manchmal singen wir Leuchte, leuchte, kleiner Stern , und sie putzen sich die Zähne, solange das Lied dauert. Dann reinigt Bob sie ihnen mit Zahnseide.
Jetzt bin ich an der Reihe. Bei mir kann man sich auch nicht darauf verlassen, dass ich mir ohne Aufsicht die Zähne richtig putze. Es ist für mich etwas zu früh am Abend, um mich fürs Bett fertig zu machen, aber Bob will mich versorgt wissen, bevor er abfährt.
»Ich kann nicht«, sagt er. »Du putzt dir die linke Seite nicht.«
Ich starre auf mein Gesicht im Spiegel, während ich mit der Zahnbürste wie wild in meinem Mund herumfuhrwerke, in der Hoffnung, zufällig mit der linken Seite in Berührung zu kommen. Weiß Gott, absichtlich kann ich dort nicht hinkommen. Wenn ich mich nicht wirklich stark konzentriere, ist mir gar nicht bewusst, dass die linke Seite meines Gesichts überhaupt existiert. Und am Ende eines Tages ist es ohnehin wirklich schwer, sich auf irgendetwas richtig zu konzentrieren.
Egal zu welcher Tageszeit, diese Nichtexistenz der linken Seite meines Gesichts hat ständig alles andere als wünschenswerte Folgen. Manchmal sabbere ich aus dem linken Mundwinkel, ohne es zu merken, bis mich jemand (meine Mutter) mit einer Serviette oder einem von Linus’ Lätzchen abtupft. Und während ein bisschen Sabber auf Linus’ Kinn süß aussieht, bin ich mir ziemlich sicher, dass es bei mir kein sehr vorteilhafter Anblick ist.
Inzwischen bin ich auch dafür bekannt, unwissentlich halb gekaute Essensklumpen in der Backentasche zwischen meinen Zähnen auf der linken Seite und dem Zahnfleisch zu horten – wie ein Backenhörnchen, das Nüsse für den Winter sammelt. Das ist nicht nur eklig, es birgt auch ein Erstickungsrisiko, sodass meine Mutter mehrmals täglich eine »Backenhörnchen-Kontrolle« durchführt. Wenn ich des Hortens überführt wurde, entfernt sie das Essen entweder mit ihrem Finger, oder sie reicht mir ein Glas Wasser und sagt mir, ich soll mir den Mund spülen und ausspucken. In beiden Fällen ist die Lösung genauso eklig wie das Problem.
Außerdem besitze ich eine umfangreiche Sammlung an Kosmetika, die nicht mehr das Tageslicht erblickt. Wimperntusche, Eyeliner und Lidschatten nur auf einem Auge, Rouge nur auf einer Wange und Lippen, die nur auf der rechten Seite rubinrot geschminkt waren, haben dazu geführt, dass jeder sichtlich Angst vor mir hatte. Bob habe ich nur ein einziges Mal gebeten, mich zu schminken – danach sah ich aus, als sollte ich im Rotlichtviertel auf und ab laufen. Offenbar vor die Wahl zwischen geistesgestörte Irre oder Prostituierte gestellt, habe ich entschieden, dass es für uns alle das Beste ist, wenn ich meine Schminksachen künftig in der Schublade lasse.
Also ist natürlich auch das Putzen der Zähne auf der linken Seite nichts, womit ich eine Goldmedaille gewinnen werde. Bob sorgt immer dafür, dass ich es zumindest einmal versuche, und dann erledigt er es für mich. So auch jetzt. Ich stochere in meinem Mund herum, steche mir dabei versehentlich in den Rachen und würge. Ich beuge mich über das Waschbecken, spucke aus und reiche die Zahnbürste Bob.
»Arbeitet sonst noch jemand?«, frage ich.
»Das bezweifle ich. Vielleicht Steve und Barry.«
Die Unternehmensleitung von Bobs Firma hat an Heiligabend allen gesagt, dass sie in der Woche zwischen Weihnachten und Neujahr schließen werden – ein unbezahlter Zwangsurlaub für die gesamte Belegschaft ist für viele Unternehmen eine Möglichkeit, in einer erfahrungsgemäß umsatzschwachen Woche Kosten einzusparen, auch ohne Rezession. Nach allem, was Bob mir erzählt hat, sind Steve und Barry durchgeknallte Workaholics, selbst nach unseren Maßstäben. Steve kann seine Frau nicht ausstehen und hat keine Kinder, und Barry ist geschieden. Natürlich gehen sie arbeiten. Sie haben nichts Besseres zu tun.
»Das ist doch verrückt. Bleib. Nimm dir die Woche frei. Fahr mit den Kindern Ski, sieh dir mit mir am Kamin Filme an. Schlaf. Entspann dich.«
»Ich kann nicht. Ich habe haufenweise Arbeit zu erledigen, und das ist die ideale
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