Mehr als nur ein halbes Leben
Hafergrütze mit Ahornsirup und Erdbeeren, dazu einen Latte, und für die Kinder und meine Mutter Rühreier mit Speck, englische Muffins und Orangensaft. Meine Mutter ist eine überzeugte Anhängerin eines warmen und herzhaften Frühstücks, was mir neu ist. Ich bin mit Kokos-Reis-Crispies, Pop-Tarts und Hawaii-Punsch aufgewachsen.
Ich habe viel über meine Mutter gelernt seit dem Tag, an dem ich aus Baldwin nach Hause gekommen bin. Sie ist auch überzeugt davon, dass man vor dem Abendessen das Tischgebet sprechen soll, dass man im Haus Pantoffeln oder Socken tragen und niemals in Schuhen oder barfuß laufen soll, dass die ganze Wäsche gebügelt werden muss (einschließlich der Handtücher und Unterwäsche), dass jeder jeden Tag mindestens eine Viertelstunde an die frische Luft soll – ungeachtet des Wetters –, dass die Kinder zu viel »Zeug« haben und zu viel fernsehen, dass Bob ein »guter Mann« ist, sich aber »in ein frühes Grab arbeitet«, und dass Gott einen Plan hat. Mit Ausnahme des zwanghaften Bügelns stimme ich ihren Ansichten und ihrer Lebensweise durchaus zu (auch wenn ich selbst nicht danach gelebt habe), und ich wundere mich darüber, wie ähnlich wir uns sind.
Aber bei alldem, was ich über sie in Erfahrung bringe, habe ich doch kaum eine Ahnung, was sie von mir denkt – außer dass sie denkt, dass ich ihre Hilfe brauche. Ich merke, dass ich mehr über sie erfahren will und dass ich sie beobachte, um Hinweise zu finden, außerstande, sie zu fragen. Es ist, als wäre ich wieder auf der Junior High, wo ich im Klassenzimmer auf Sean Kellys Hinterkopf starre, während ich mich in meinem unerträglich unbeholfenen Schweigen frage, ob er mich mag. Glaubt meine Mutter, dass ich eine gute Frau bin? Eine gute Mutter? Ist sie stolz auf mich? Glaubt sie, dass ich wieder ganz gesund werde? Ich weiß es nicht.
Und je mehr ich erfahre, desto mehr Fragen scheinen ans Licht zu kommen, vor allem über die Vergangenheit. Wo war diese Frau in meiner Kindheit? Wo waren meine Regeln, warmen Mahlzeiten und gebügelten Kleider? Ich frage mich, ob sie weiß, wie viele Stunden ich mir Drei Mädchen und drei Jungen angesehen habe und wie viele Lyoner-Mayonnaise-Sandwiches ich allein vor dem Fernseher gegessen habe, ohne das Tischgebet zu sprechen, während sie sich im Schlafzimmer einschloss und mein Vater die Nachtschicht auf der Feuerwache verbrachte. Ich frage mich, warum ich ihr nicht genug war.
Die Wettervorhersage für den Mount Cortland meldet heute Morgen starke Winde, und alle Gipfellifte sind geschlossen. Obwohl das Charlie und Lucy an den Anfängerhügeln nicht betreffen würde, haben wir beschlossen, uns heute einen ruhigen Tag zu machen und zu Hause zu bleiben. Ich habe angenommen, sie würden es kaum erwarten können, sich einen Film anzusehen oder ein Videospiel zu spielen, weil sie beides nicht mehr gemacht haben, seit wir am Freitag mit dem Auto hierhergekommen sind, aber sie wollen beide draußen im Garten spielen.
»Schneeanzüge, Mützen, Handschuhe, Stiefel«, sage ich, während sie um die Wette in den Windfang rennen.
»Wo sind die Strandsachen?«, ruft Charlie. Er meint die Tonne mit Schaufeln, Eimern und Förmchen, die sich zum Spielen im Schnee genauso gut eignen wie für den Sand.
»Es ist alles schon draußen«, ruft meine Mutter. »Charlie, Augenblick! Deine Vitamine!«
Er raschelt und poltert in Schneeanzug und Stiefeln zurück in die Küche und schluckt gehorsam sein Concerta.
»Braver Junge. Und jetzt ab mit dir«, lobt meine Mutter.
Wir beobachten die beiden durch das Panoramafenster. Lucy, die ein Paar ihrer zahlreichen Feenflügel wie einen Rucksack über ihrer Jacke trägt, sammelt Stöckchen in einen roten Eimer. Charlie läuft weiter in Richtung Wald und beginnt, sich im Schnee zu rollen. Währenddessen kurvt Linus, noch immer in seinem Strampelpyjama, im Wohnzimmer um den Couchtisch und klickt magnetische Züge aneinander.
»Ich werde mit Linus gleich ein bisschen an die frische Luft gehen«, kündigt meine Mutter an.
»Danke.«
Sie setzt sich auf den Sessel neben mir, zu meiner Rechten. Da setzt sie sich am liebsten hin, damit ich sie auch sicher sehen kann. Sie hält ihren Becher mit Kräutertee in der Hand und schlägt ein People -Magazin auf. Vor mir liegt die gestrige New York Times . Ich suche nach Seite C5, der Fortsetzung des Artikels über die Kosten des Irakkriegs, mit dem ich gestern auf der Titelseite angefangen habe. Ich kann sie nicht finden.
»Ich
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