Mehr als nur ein Zeuge
Sie beugt sich zu mir runter, tätschelt mir die Schulter und fragt eindringlich: »Was ist los, Joe? Brauchst du Hilfe?«
Es kostet mich eine Wahnsinnsanstrengung, mich aufzusetzen, |62| aber ich kriege immer noch kein Wort raus. Ich atme tief ein und aus und schlinge die Arme um die Knie. Ich darf nicht mehr zittern. Ich darf nicht mehr das Blut vor mir sehen, die Erde im Park, das Fleisch wie beim Metzger – darf nicht an den Krankenwagen denken, darf nicht in Panik verfallen. Herrgott, Ty, jetzt reiß dich am Riemen!
Ellie reicht mir eine Flasche mit einem zuckerhaltigen Sportgetränk. »Trink. Vielleicht bist du dehydriert.« Ich nehme einen kleinen Schluck. Es hilft. »Soll ich jemanden holen? Tut dir etwas weh?«
Ich schüttle verlegen den Kopf. Ich will etwas sagen, aber jedes Mal, wenn ich den Mund aufmache, mache ich ihn wieder zu, weil ich Angst davor habe, dass ich womöglich losschreie.
Ellie streichelt mir die Schulter und ich lege meine Hand auf ihre. Es fühlt sich an, als wäre sie meine letzte Zuflucht. Ich sehe mich um. Zum Glück ist sonst keiner da. Ellie zieht ihre Hand nicht weg und ich beruhige mich allmählich. Es kommt mir komisch vor, zu ihr aufzusehen, weil man sonst immer auf sie runterguckt.
Es scheinen Stunden zu vergehen, bis sie schließlich sagt: »Du siehst schon viel besser aus. Kannst du mir sagen, was passiert ist?«
Ich halte immer noch ihre Hand wie ein Kleinkind. Ich lasse sie sofort los. Sie richtet sich auf, und mir geht durch den Kopf, wie unbequem es für sie gewesen sein muss, sich zu mir runterzubeugen. Am liebsten würde ich einfach weglaufen, aber ich bin ihr zumindest ein Stückchen |63| Wahrheit schuldig. »Ich hab beim Laufen die Augen zugemacht, und auf einmal wusste ich nicht mehr, wo ich war. Es war wie ein Flashback.«
»Ein Flashback auf etwas, das dir Angst eingejagt hat?«, fragt sie mit offener Neugier.
»Außerdem habe ich heute noch kaum was gegessen, das hat wahrscheinlich dazu beigetragen.«
Sie schaut auf die Uhr. »Sechs Uhr. Was meinst du, bist du fit genug? Magst du dich umziehen? Wir können ja zur Hauptstraße gehen, einen Kaffee trinken und eine Kleinigkeit essen. Und uns unterhalten. Ich möchte nicht, dass das jedes Mal passiert, wenn du trainierst, schon gar nicht, wenn ich nicht dabei bin.« Sie greift in ihre Tasche. »Siehst du, ich hab dir eine Zugangskarte besorgt. Das Sekretariat hat sich ziemlich angestellt, deshalb hat es so lange gedauert. Es gibt einen Schüler in deinem Alter, Carl Soundso, er ist Kapitän der U1 4-Fußballmannschaft . Der war stinksauer, weil er und seine Mannschaft keine Zugangsberechtigung bekommen, und der hat ewig herumdiskutiert. Aber Mr Henderson hat gesagt, er kann nur eine Ausnahme machen, denn wenn er ihnen auch Karten ausstellt, muss er Hunderte Leute reinlassen. Ich hoffe, dass du deshalb keinen Stress kriegst.«
Ich zucke die Achseln. »Jedenfalls vielen Dank.«
Sie schaut mich nachdenklich an. »Es sei denn, du hast jetzt überhaupt keine Lust mehr. Was meinst du, könnte so etwas wieder vorkommen?«
Ich überlege. »Nein, ich trainiere gern. Meistens fühle |64| ich mich danach viel besser. Ich war bloß heute nicht in Form.«
»Gut. Kannst du aufstehen? Am besten machst du noch ein paar Dehnübungen.«
Ich stehe auf und recke mich. Eine halbe Stunde später sitzen wir in einem Öko-Café an der Hauptstraße. »Ich glaube nicht, dass wir jemanden von deinem Fanclub hier drinnen treffen, die hocken bestimmt bei Starbucks und schlürfen Frappuccinos«, meint Ellie und bestellt für uns beide eine braune Reispampe.
»Was meinst du mit Fanclub?«
Ellie lacht. »Du musst doch mitgekriegt haben, dass du die Schule im Sturm erobert hast, Joe! Die meisten Mädchen aus der Achten, und die aus der Siebten und Neunten dazu, sind verrückt nach dir. Sie reden von nichts anderem mehr.«
Ellie macht wohl Witze. »Woher willst du das wissen?«
»Ich habe da so meine Quellen. Meine Schwester geht in die Achte, außerdem leite ich eine Sportgruppe für Mädchen. Glaub mir, ich weiß alles.«
»Du hast eine Schwester in der Achten?« Wie konnte ich jemanden übersehen, der Ellie ähnelt, vor allem, wenn diejenige ein Auge auf mich geworfen hat?
»Claire ist in deiner Klasse. Natürlich berichtet sie mir nur, was die anderen Mädchen denken«, setzt Ellie rasch hinzu. »Sie ist keine von denen, die machen, was alle anderen machen.«
Claire? Die kleine graue Maus, die vor mir sitzt? Wie kann so
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