Mehr als nur ein Zeuge
jemand Ellies Schwester sein? »Ach, die. Sie |65| spricht nicht viel.« Wie kann ich bloß mehr herausfinden, ohne eingebildet zu klingen?
»Die Mädchen halten dich alle für älter, als du bist. Deswegen hab ich dich auch damit aufgezogen, dass du erst zwölf bist. Allem Anschein nach bist du sehr geheimnisvoll. Und dann sind da noch diese Wangenknochen.«
Aha. Ich nehme zwar an, dass sie mich immer noch aufzieht, aber es klingt ganz danach, als wäre meine Tarnung nicht besonders wasserdicht. Ich kaue auf meiner Unterlippe, was ich immer mache, wenn ich unsicher bin.
»Hast du was dagegen?«, fragt Ellie. »Ist doch schön für dich, oder nicht?«
»Weiß nicht. Es ist alles ziemlich kompliziert.«
»Aha.«
»Bitte, Ellie, erzähl niemandem, was vorhin passiert ist, okay?«
»Keine Angst. Es wäre mir nur lieber gewesen, ich hätte dich nicht allein gelassen. Wenn du auf dem Laufband ohnmächtig geworden wärst, hättest du dich schlimm verletzen können.«
»Hab ich aber nicht. Ich meine, ich bin ja nicht mal richtig ohnmächtig geworden.«
»Wie viel isst du, Joe? Was du mir beim Gesundheitscheck erzählt hast, war alles Quatsch, stimmt’s?«
»Äh … nicht ganz, meistens ernähre ich mich gesund und schlafe auch genug und so. Nur in den letzten Wochen war alles ein bisschen … ähm … schwierig. Ich hab dir eher so allgemein geantwortet.« Genau genommen |66| habe ich ihr von der Zeit erzählt, als Gran sich noch richtig um mich kümmern konnte.
»Und wie sieht’s momentan mit deiner Ernährung aus? Und mit Schlafen, Rauchen und Trinken?«
»Also, wir sind ja gerade umgezogen, da ist das mit der Ernährung ein bisschen durcheinandergeraten. Ich meine, wir haben das mit den Geschäften und so hier im Ort noch nicht so richtig drauf. Und meine Mum behauptet, Rauchen beruhigt ihre Nerven, deshalb hab ich’s mal probiert, um zu sehen, ob es hilft.« Ich stochere in dem braunen Reis herum. Es ist komisch, aber gar nicht schlecht, mal etwas Vernünftiges in den Magen zu kriegen, das ich nicht selber kochen muss.
»Um Himmels willen, Joe, bist du verrückt? Da hast du die Chance, in eine der besten Schulleichtathletikmannschaften weit und breit aufgenommen zu werden, und fängst an zu rauchen?«
»Äh, na ja …«
»Warum seid ihr überhaupt hierhergezogen?«
Warum? Hmm … »Meine Mum hat sich von ihrem Freund getrennt und wollte noch mal von vorn anfangen.« Klingt ziemlich einleuchtend – dafür, dass ich es einfach so aus dem Ärmel geschüttelt habe.
»Und was ist mit deinem Vater?«
»Den sehe ich nie.«
Plötzlich fällt mir etwas ein, das meine Gran mal über meinen Vater gesagt hat: »Dieser Danny Tyler«, hat sie gebrummelt, »der Kerl sah so verdammt gut aus, dass er seinen eigenen Fanclub hatte. Und deine Mum musste |67| natürlich alle anderen ausstechen.« Gran scheint meinen Vater nicht besonders gemocht zu haben, aber nach Ellies Kommentar zu meinem Fanclub fühle ich mich ihm richtig nah. Ich heiße Tyler, nach meinem Dad, und jetzt, wo ich meinen Namen ändern musste, habe ich diese kleine Verbindung auch noch verloren.
»Dann sind du und deine Mum wahrscheinlich ein bisschen einsam, so ganz allein in einer neuen Stadt.«
»Geht schon.«
»Als ich damals nach meinem Unfall im Krankenhaus lag, war ich auch ziemlich fertig«, sagt sie. Ich wundere mich, wie locker sie darüber reden kann, obwohl der Unfall ihr Leben bestimmt völlig umgekrempelt hat. Ich kann mir ein bisschen vorstellen, wie sich das anfühlt. »Ich war in einer schrecklichen Verfassung, habe mir die Schuld gegeben und allen anderen auch … Ich habe keine Zukunft mehr gesehen, wollte nur wieder zurück in meine Vergangenheit.
Eines Tages kam eine Physiotherapeutin zu mir. Ich habe mich geweigert, mit ihr zu arbeiten. Ich habe nur getobt und geschrien. Und sie hat gesagt: ›Du kannst schreien, so viel du willst. Es wird sich nichts ändern, solange du dich nicht änderst.‹«
»Und? Wieso hast du dich dann geändert?«
Sie lächelt. »Sie hat mich nachdenklich gemacht und das hat tatsächlich geholfen. Ich habe angefangen, mein Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Aber das Beste daran war die Erkenntnis, dass es nicht unbedingt nur schlecht ist, im Rollstuhl zu sitzen.«
|68| »Wieso nicht?«
»Wenn man im Rollstuhl lossaust, ist das fast wie Fliegen. Ehrlich, Joe, es ist viel, viel besser als Fahrrad- oder Skifahren.«
Ob ich wohl irgendwann mal wieder Ty sein darf und
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