Mehr als nur ein Zeuge
duschen zu gehen, darum setze ich mich auf eine Bank, krame in meiner Sporttasche und hoffe, dass sie bald verschwinden.
Carl ist ein kräftiger Typ mit so kurzen Haaren, dass die rosa Kopfhaut durch die Stoppeln durchscheint. Er hat Manchester-City-blaue Augen mit kurzen, fast weißen Wimpern und massenhaft Pickel. Wahrscheinlich ist er der Einzige in allen achten Klassen, der größer ist als ich – und doppelt so breit. Er sieht eher nach Rugbyspieler als nach Fußballer aus, obwohl er angeblich als Verteidiger die reinste Backsteinmauer ist und schon für irgendeine Akademie für den Nachwuchs der Ersten Liga ausgewählt wurde. Wären wir in einem Film, würde er von Shrek gespielt.
Er baut sich vor mir auf und pöbelt: »Du hältst dich wohl für oberschlau, hä? Lässt dir von deiner Freundin ’ne Zugangskarte besorgen, pfff!«
Ich habe keine Lust, mich zu streiten. »Pass auf, Kumpel, das war nicht meine Entscheidung. Von mir aus könnt ihr alle eine haben.«
»Ach, hör doch auf! Du hältst dich für was Besseres, bloß weil du aus London kommst. Pass lieber auf, sonst merkst du bald, dass du doch nicht so schlau bist und die |86| Mädchen dich gar nicht mehr so toll finden. Vielleicht rücken wir dir die Visage mal ein bisschen zurecht.«
Oje, der Typ kann einen noch nicht mal anständig beleidigen. Er kommt ja ins Stottern.
Es klingelt – Mist! – und sie schlurfen raus. Ich springe unter die Dusche und wasche mich so schnell wie noch nie. Trotzdem knöpfe ich mir immer noch das Hemd zu und die Krawatte flattert mir über die Schulter, als ich in Richtung Klassenzimmer sprinte. Die anderen sind schon auf dem Weg in die Aula. Ashley Jenkins und ihre Freundinnen pfeifen mir nach, aber ich bin zu sehr mit den blöden Knöpfen beschäftigt.
Mr Hunt, unser Klassenlehrer, schaut mich nicht sehr freundlich an. »Schön, dass du wenigstens heute auftauchst, Joe«, sagt er ironisch. »Allerdings sehen wir es gern, wenn unsere Schüler vollständig bekleidet sind.«
»Tut mir leid, Sir.« Ich binde meine Krawatte und versuche mir gleichzeitig die Hemdärmel zuzuknöpfen.
»Hast du eine Erklärung für dein unentschuldigtes Fehlen gestern? Eine häusliche Krise, soweit ich vernommen habe.«
Warum fragt er, wenn er es sowieso schon weiß? »Ja, Sir.«
»Du brauchst mich nicht ›Sir‹ zu nennen, Joe. Wir sind hier nicht beim Kadettenkorps.«
Hä? Das ist mir so was von egal. Ich habe größere Sorgen, als Mr Hunt sich vorstellen kann, und vielleicht bin ich morgen schon gar nicht mehr in seiner Klasse. »Soll ich jetzt zur Morgenversammlung, Sir, oder soll ich |87| Ihnen lieber erzählen, dass meine Mum krank war?«, frage ich und klinge dabei so gelangweilt, wie ich mich traue.
»Geh in die Aula, und heute Nachmittag darfst du nachsitzen, weil du hier halb nackt aufgekreuzt bist.« Ich komme gerade noch rechtzeitig, um mich zu meiner Klasse zu stellen. Dann setze ich mich neben die kleine mausige Claire, die rot anläuft, als ich mich zu ihr rüberbeuge und flüstere: »Ich wusste gar nicht, dass du Ellies Schwester bist.«
»Ruhe!«, brüllt Mr Hunt, und wir sitzen da wie erstarrt, während uns der Schulleiter etwas von moralischen Entscheidungen und was das mit unserer Schuluniform zu tun hat, erzählt. Die richtige Entscheidung zu treffen wird zur Gewohnheit, genau wie ordentlich gekleidet zu sein … Äußerliche Ordnung, innere Disziplin … blablabla … das kommt mir alles so sinnlos vor.
In der Pause sagt Brian aus der nächsten Bank zu mir: »Hier, Joe«, und zieht ein paar Zettel aus seiner Tasche. »Das ist die Hausaufgabe, die du gestern versäumt hast. Ich dachte, ich hebe sie dir lieber auf. Du musst das hier und das hier bis Montag machen, und von dem hier«, er blättert feierlich einen Riesenstapel Mathebögen durch, »die Seiten vier, fünf und sechs bis Mittwoch.«
Bis dahin kann ich schon sonst wo sein, aber es ist trotzdem nett von ihm, dass er die Arbeitsblätter für mich aufgehoben hat. An so was hätte Arron bestimmt nicht gedacht. Wenn ich so drüber nachdenke, finde ich Brian |88| überhaupt ziemlich in Ordnung. Jemand, dem ich vielleicht sogar vertrauen kann.
»Danke, Bri, super, dass du dran gedacht hast.« Ich stecke die Zettel ein. »Bri, kann ich dich mal streng vertraulich um Rat fragen?«
Brian strahlt. »Klar doch.«
»Na ja … du kennst doch Carl und seine Bande. Wenn die einem drohen … wie ernst meinen die das? Muss ich mir da
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