Mehr als nur ein Zeuge
wenn wir in Verbindung bleiben könnten.«
Schon gebe ich ihr ein Versprechen, das ich nie werde einhalten können. Dann fangen wir mit Aufwärmübungen auf der Bahn an und anschließend laufe ich gegen die Uhr. Sie scheint sehr zufrieden mit den Ergebnissen zu sein, und es hat auch etwas Befriedigendes, gegen den Schmerz in meinem Schienbein anzulaufen. Ich kann mich damit arrangieren, ich kann den Schmerz aushalten. Eine echt nützliche Fähigkeit.
Als wir schon fast fertig sind, kommt Mr Henderson zu uns raus. Er sieht ein bisschen verärgert aus und kriegt auch keine bessere Laune, als ihm Ellie das Klemmbrett mit meinen Zeiten zeigt. »Sehr schön, gut gemacht«, sagt er. Und dann: »Wenn ihr fertig seid, Joe, muss ich noch ein ernstes Wort mit dir reden.«
»Wir brauchen noch zehn Minuten, geht das in Ordnung?«, fragt Ellie.
»Ich bin in meinem Büro.«
|92| Bei den abschließenden Dehnübungen zerbreche ich mir den Kopf darüber, wieso er sauer auf mich sein könnte. Soweit ich das beurteilen kann, habe ich nichts angestellt, aber wer weiß? Auch Ellie ist verwirrt und sagt: »Wahrscheinlich ist es gar nichts, mach dir keine Sorgen. Ich habe mich gestern mit ihm unterhalten und ihm erzählt, dass du dich sehr gut machst.«
Mr Hendersons Büro ist ein muffiges Durcheinander aus Sportgeräten und verschwitzten Klamotten. Aber es ist ziemlich gemütlich. In der Ecke steht ein weicher Sessel, auf den er mit dem Kinn deutet, als ich reinkomme. Ich setze mich auf die Sesselkante.
»Warum warst du heute Nachmittag auf der Laufbahn, Joe, obwohl mir Mr Hunt erzählt hat, dass du nachsitzen musst?«
»Mist! Das hab ich total vergessen.«
»Mr Hunt ist ganz und gar nicht zufrieden mit dir. Er sagt, du seist heute Morgen ›grenzwertig frech‹ gewesen und seist zu spät und nur halb bekleidet ins Klassenzimmer gekommen.«
Zu meiner Überraschung merke ich, dass ich sauer werde. »Die Sache ist die, dass er denkt, ich mache mich über ihn lustig, wenn ich ihn mit ›Sir‹ anrede, aber ich war das bislang so gewohnt und mache das nicht absichtlich, eigentlich versuche ich eher, höflich zu sein, und ich wollte auch nicht zu spät und nicht fertig angezogen aufkreuzen, aber als ich heute Morgen mit dem Training fertig war, war es total voll in der Umkleide, deshalb war es eigentlich nicht meine Schuld, und eigentlich |93| ist es unfair, dass er so was sagt.« Ich schnappe nach Luft und höre mich an wie ein quäkendes Kleinkind.
»Vor zwei Tagen habe ich eine große Ausnahme gemacht und dir eine Zugangskarte ausgestellt, damit du unsere Einrichtungen auch außerhalb der üblichen Zeiten benutzen kannst. Ich muss dir nicht noch mal sagen, was das für ein Vorrecht bedeutet und wie viele andere Schüler gern so eine Karte hätten. Ich war gestern einigermaßen erstaunt, als ich gesehen habe, dass du diesen Vorteil nicht nutzt, und noch erstaunter, als ich von meiner Frau erfuhr, dass sie jemanden, auf den deine Beschreibung passt, unten bei Morrison’s gesehen hat, obwohl du eigentlich in der Schule hättest sein müssen.«
Verdammt noch mal! Diese Stadt hat überall ihre Spitzel. Ich stütze den Kopf in die Hände. »Mr Henderson, meiner Mum ging es gestern nicht besonders gut. Sie … wir hatten überhaupt nichts mehr zu Essen zu Hause. Ich musste mich um sie kümmern. Ich wollte wirklich zur Schule und zum Training und alles, aber es ging einfach nicht. Meine Mum und ich sind aufeinander angewiesen, wir haben sonst niemanden, der uns hilft. Ich weiß es wirklich sehr zu schätzen, dass ich die Karte bekommen habe, und bin heute Morgen extra früh aufgestanden und habe ausgiebig trainiert und es macht mir wirklich Spaß, also nehmen Sie mir die Karte bitte nicht wieder weg.«
Ich merke, dass Mr Henderson am liebsten fragen würde, was mit meiner Mutter los war, und ich würde am liebsten rausplatzen: »Sie war betrunken und hätte beinahe |94| das Haus abgefackelt!«, aber wir halten uns beide zurück, was auch besser ist, denn was ich jetzt auf gar keinen Fall brauchen kann, ist ein Kontrollbesuch vom Jugendamt.
»Ellie hat mir erzählt, dass du zurzeit emotional sehr belastet bist. Sie hat Bedenken, dass dich das Training noch mehr unter Druck setzt.«
»Nein, nein, nein, auf keinen Fall. Mich hat sie darauf nicht angesprochen.«
»Sie arbeitet ja auch sehr gern mit dir und möchte weitermachen. Aber sie ist selbst nur Schülerin, deshalb war es gut, dass sie mir von ihren Bedenken erzählt
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