Mehr als nur ein Zeuge
durch, ich schwör’s!«
»Ich muss gar nichts tun, was du mir sagst.«
»Doch!«, brüllt sie mich an. »Setz dich wieder hin und hör mir zu! Wärst du nicht hinter Arron hergelaufen, obwohl er das nicht wollte, wären wir jetzt nicht hier.«
Er wollte es wohl, denke ich, aber ich sage es nicht. Ich setze mich hin. Ich höre zu. Aber ich sehe sie nicht an.
»Das alles ist für uns beide sehr schwer, Ty, aber das Wichtigste, das einzig Gute daran ist, dass wir einander haben. Wir können uns gegenseitig stützen, dann schaffen wir es auch. Wenn wir uns die ganze Zeit nur streiten, bleibt uns gar nichts mehr.«
Stimmt nicht, denke ich. Ich bin Joe, der künftige Supersportler. Ich bekomme Sondertraining und besitze eine Zugangskarte. Ich habe einen Fanclub aus Möchtegernfreundinnen und jede Menge Jungs in meiner Mannschaft. Du bist diejenige, die nichts hat. Loser.
»Für mich ist das alles sehr schwierig, Ty. Ich bin erst einunddreißig. Ich habe noch Träume – mein Jurastudium, |79| meine Zulassung als Anwältin, die Suche nach einem neuen Partner, vielleicht sogar heiraten, ja, vielleicht hätte ich sogar gern noch einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester für dich. Wie soll ich das schaffen, wenn wir alle halbe Jahre eine neue Identität bekommen? Was für ein Leben ist das? Du kannst jeden Tag in die Schule gehen, aber ich sitze hier herum und mache mir Sorgen um dich, bis du wieder nach Hause kommst. Wenn ich selber das Haus verlasse, bin ich die ganze Zeit darauf gefasst, dass mich jemand verfolgt.« Ihre Stimme zittert, aber sie schafft es, nicht zu weinen.
»Ich weiß nicht, was mit dir passiert ist. Du bist so groß geworden und siehst so anders aus. Es sind nicht nur die dunklen Haare und die Augen. Alles ist anders. Früher hast du mir immer alles erzählt, Ty, und jetzt reden wir überhaupt nicht mehr miteinander.«
Hat sie echt erwartet, dass ich bis in alle Ewigkeit ihr lieber kleiner Ty bleibe? Glaubt sie wirklich, ich hätte ihr in den letzten paar Jahren immer alles erzählt? Ich bin viel zu wütend, um Mitleid mit ihr zu haben, aber irgendwie will ich auch nicht, dass wir uns noch schlimmer zerstreiten.
»Hör auf zu rauchen«, sage ich.
Sie ist baff. »Ich kann weniger rauchen, das versprech ich dir, aber ich kann nicht einfach so aufhören.«
»Hör auf damit, denn ich kann nicht den ganzen Tag in der Schule dran denken, dass du womöglich das Haus abfackelst, so wie gestern fast.«
|80| Sie nimmt ihre Handtasche, zieht das Päckchen raus und wirft es in den Küchenmülleimer. Dann, zwei Sekunden später, streckt sie die Hand in den Eimer und zieht das Päckchen wieder raus. Echt jämmerlich.
»Ich verspreche dir, dass ich nur draußen rauche.«
»Dann musst du auch rausgehen. Du musst einkaufen und dir einen Job suchen oder eine Gymnastikgruppe oder einen Kurs oder sonst was, Nicki. Du kannst nicht den ganzen Tag hier rumhocken.«
»Du hast mich zum ersten Mal seit Wochen Nicki genannt«, sagt sie und hört sich gleich glücklicher an.
»Soll nicht wieder vorkommen.«
»Aber ja doch.« Jetzt lächelt sie mich an.
»Hör mal, wir müssen das hier vernünftig durchziehen. Wir müssen andere Menschen sein, nicht nur so tun.«
»Wie können wir andere Menschen sein, wenn ich dir alle zwei Wochen die Haare färben muss? Ich will kein anderer Mensch sein. Ich habe hart geschuftet, damit wir unser Leben auf die Reihe kriegen und bei Gran ausziehen können. Das habe ich alles ganz allein geschafft. Und wofür?«
»Abba da hasdu jetz’ escht keine andere Wahl, ey«, erwidere ich, weil ich weiß, dass ich sie damit voll auf die Palme bringen kann. Meine Mum will immer, dass wir so korrekt reden wie im Fernsehen. Sie glaubt, das wär meine Eintrittskarte in eine bessere Zukunft – und wenn sie das kann, kann ich das auch. Klar, wenn sie sauer wird, schimpft sie wie ein ganz normaler Mensch, aber es ist keine gute Idee, ihr das vorzuhalten.
|81| Wenn ich ihr damals erklärt habe, dass Urdu und Portugiesisch die Eintrittskarte in eine bessere Zukunft sind, hat sie immer gedroht, mich von Mr Patel und besonders von Maria aus dem Tattoo-Laden fernzuhalten. Manchmal checkt sie echt überhaupt nichts.
Natürlich reagiert sie genauso, wie ich es erwartet habe: »Sprich ordentlich, Ty. Warum habe ich dich auf eine gute Schule geschickt, wenn du so daherredest?«
»Das wüsste ich auch gern«, erwidere ich wahrheitsgemäß. Ich wünschte, sie hätte mich nicht auf die St.
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