Mehr als nur ein Zeuge
sie uns nicht irgendwo auflauern. Am Parktor stecke ich das Messer wieder weg und warte, bis die beiden in den Bus eingestiegen sind. Dann drehe ich mich zu Ashley um, die nicht mehr weint, aber immer noch ziemlich erschrocken aussieht. Irgendwo in meinem Hinterkopf sagt eine Stimme, dass es gar nicht so schlecht ist, wenn sie mal selbst erlebt, wie das ist, was sie anderen Leuten wie Claire antut.
»Alles okay?«, frage ich.
»Ja«, flüstert sie. Und dann: »Warum hast du ein Messer dabei, Joe?«
Weil irgendwo Typen rumlaufen, die meine Gran geschlagen und gefoltert haben, damit sie rauskriegen, wo ich mich aufhalte, und weil ihnen meine Mum womöglich versehentlich unsere Adresse verraten hat. Ich zucke die Achseln. »Aus Gewohnheit.«
Ob Jordan und Louis wohl jetzt nach Hause fahren und in den Küchenschubladen kramen, damit ihnen so was nicht noch mal passiert? Aber vor allem beschäftigt mich, was
ich
wohl gemacht hätte, wenn die beiden ihre Handys nicht rausgerückt hätten.
»Und wieso hast du auf einmal so anders geredet?«
Es ist einfach nur eine andere Sprache, würde ich gern antworten, so wie Urdu, Türkisch oder Portugiesisch. Wir haben schon in der Grundschule aus Spaß so geredet. Dann sind manche von uns auf Schulen gekommen, wo das zum allgemeinen Umgangston gehörte, manche gingen auf Schulen, wo man Gangsta auf dem Schulhof spricht und im Unterricht normal redet, und zwei von |192| uns sind jeden Tag quer durch die Stadt zur St. Saviours gefahren, wo man »Ja, Sir« und »Nein, Sir« sagt und einen die anderen Jungs auslachen, weil man aus East London kommt.
»Is halt so ’ne Kiezsprache«, sage ich.
»Du hörst dich dann an wie jemand ganz anders«, sagt sie. Ich küsse sie zum Abschied, als ihr Bus kommt, aber sie ist irgendwie nicht bei der Sache.
In den nächsten paar Tagen halte ich mich bedeckt. Ich beantworte keine SMS, nicht mal welche von Ashley, und mache einen großen Bogen um die Schule. Die Einzige, von der ich gern hören würde, ist Ellie, aber die hüllt sich in Schweigen. Vielleicht ist sie zu enttäuscht von mir. Vielleicht hat ihr Claire erzählt, dass ich ihr wehgetan und Angst gemacht habe.
Maureen hält mich mit den Neuigkeiten aus dem Krankenhaus auf dem Laufenden. Gran ist immer noch nicht zu sich gekommen, und obwohl ihr Zustand angeblich stabil ist, haben die Ärzte keine Ahnung, wann sie wieder aufwacht – wenn überhaupt. Mum und meine Tanten gehen weiterhin jeden Tag ins Krankenhaus. »Stehen sie dort auch unter Polizeischutz?«, frage ich und Maureen sagt, ja, selbstverständlich, es sei ständig ein Polizist vor Ort. »Sind die Täter schon gefasst?«, frage ich noch, aber Maureen schüttelt den Kopf.
Ich schaue tagsüber viel fern und lasse die Vorhänge geschlossen. Es sieht ganz so aus, als würde ich auf die eine oder andere Weise von der Schule fliegen. Jordan |193| und Louis verpetzen mich bestimmt, weil ich sie mit einem Messer bedroht habe. Claire wird allen erzählen, dass ich sie schikaniert habe. Carl hat bestimmt einen unheilbaren Hirnschaden abgekriegt.
Und dann? Dann bin ich nicht mehr Joe und muss wieder ganz von vorn anfangen. Ich weiß nicht, ob das gut ist oder nicht. Seit Mum weg ist – seit niemand mehr da ist, der mich als Ty kennt –, kommt es mir vor, als hätte sich Joe in ein Monster verwandelt. Da bleibe ich lieber zu Hause und glotze blödes Hausfrauenfernsehen.
Als ich am Freitagmorgen in Jeans und T-Shirt runterkomme, schickt mich Maureen gleich wieder hoch, die Schuluniform anziehen. Sie schneidet mir sogar die Haare nach und kämmt mich, als wäre ich sechs. Dann fährt sie mich zur Schule. »Denk dran, dem Direktor zu sagen, dass es dir leidtut, und ihm zu versprechen, dass so etwas nie wieder vorkommt. Man soll dir ansehen, dass du es ernst meint. Keine Widerworte, keine Diskussion.«
Zum Glück sind alle im Unterricht und keiner, den ich kenne, sieht uns, als wir durch die Flure zum Büro des Direktors gehen. Maureen klopft an die Vorzimmertür und meldet der Sekretärin: »Joe Andrews und Maureen O’Reilly. Wir haben einen Termin beim Schulleiter.«
Ich kriege einen Schreck, als ich die Frau sehe. Als wäre Ashley über Nacht um dreißig Jahre gealtert. Die gleichen dunklen Haare, die gleichen Spinnenwimpern, |194| der gleiche Schmollmund. Sogar die Blusenknöpfe spannen auf die gleiche Art. Der Anblick macht mich irgendwie krank. Sie schaut mich an wie einen Mistkäfer – interessant, aber
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