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Mehr als nur ein Zeuge

Mehr als nur ein Zeuge

Titel: Mehr als nur ein Zeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keren David
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fernsieht und nicht mal die Vorhänge aufzieht. Er hat jede Menge Nachrichten von seinen Freuden bekommen, die ihn geradezu vorbildlich unterstützen, und er hat auf keine davon geantwortet. Joe und seine Mutter sind neu in dieser Stadt. Als sie herkamen, kannten sie keine Menschenseele. Joe musste neue Freunde finden und sich an eine fremde Umgebung gewöhnen. Die Schule hat dabei meiner Meinung nach auf ganzer Linie versagt, wenn es Ihnen nicht einmal gelingt, ihn vor solchen Anfeindungen und Übergriffen zu schützen.«
    Sie unterbricht sich, aber nur, um Luft zu holen. »Im Krankenhaus wurde mir gesagt, dass Joes Atmung nach dem Tritt womöglich schon den ganzen Tag über gelitten hat, und dass die Sauerstoffversorgung seines Gehirns auf jeden Fall noch weiter eingeschränkt wurde, als er von seinen Widersachern unter Wasser gedrückt wurde. Das zusammengenommen mag seine Zurechnungsfähigkeit beeinträchtigt haben. Joe kommt aus einem rauen Großstadtviertel, darum hat ihn seine Mutter seinerzeit in den Boxverein geschickt, damit er sich besser wehren kann. Bitte halten Sie ihm zugute, dass er instinktiv und aus reinem Selbstschutz gehandelt hat.«
    |198| Sie hätte Anwältin werden sollen! Das war genial! Mr Naylor will etwas einwenden, aber Maureen ist noch nicht fertig.
    »Joe hat die ganze Woche zu Hause gehockt, während die Jungen, die ihn unter Wasser gedrückt haben, zur Schule gehen durften. Ich finde, damit ist Joe schon mehr als genug bestraft.«
    Mr Naylor räuspert sich. »Ich habe durchaus auch Positives über Joe gehört, außerdem liegt mir ein Brief von Ellie Langley vor, der Schülerin, die ihn bei seinem Training betreut. Sie setzt sich nachdrücklich dafür ein, dass ihm gestattet wird, sein Leichtathletiktraining fortzusetzen. Was ich von Joe gern hören würde, ist, dass er sein Verhalten bereut   – sowie eine verbindliche Aussage hinsichtlich seines zukünftigen Verhaltens.«
    »Das wird er sicherlich tun«, Maureen wirft mir einen flüchtigen Blick zu, »aber ich wüsste trotzdem gern, was Sie zu unternehmen gedenken, um diesen brutalen Kerl daran zu hindern, weiterhin seine Mitschüler zu terrorisieren. Ich brauche Ihnen ja wohl nicht zu erläutern, was für Folgen es hätte haben können, wenn eine der gebrochenen Rippen Joes Lunge durchbohrt hätte.«
    »Nun«, sagt Mr Naylor, »an unserer Schule praktizieren wir in solchen Fällen ein Schlichtungsprogramm. Das bedeutet, dass sich die beiden Parteien zusammensetzen, sich über die Auswirkungen unterhalten, die der Zwischenfall gehabt hat, und gemeinsam nach neuen Wegen suchen. In diesem Fall wäre es mir lieb, wenn sich Joes Mutter mit Mr und Mrs Royston in Verbindung setzen |199| würde, statt die Polizei einzuschalten. Wenn Sie möchten, bitte ich die drei herein, dann werden wir ja sehen, ob Carl und Joe es schaffen, miteinander Frieden zu schließen.«
    Er steht auf und geht zur Tür. Maureen sieht mich an, verdreht die Augen und ballt heimlich die Faust. Ich bin immer noch sprachlos, wie es ihr gelungen ist, mich vom Täter zum Opfer zu verwandeln, und überlege, ob man auch vor einem echten Gericht die Fakten so beliebig verdrehen kann. Vielleicht gibt es ja gar keine eindeutige Wahrheit, sondern nur lauter unterschiedliche Sichtweisen, denselben Sachverhalt zu interpretieren.
    Carl und seine Eltern marschieren rein. Wir quetschen uns alle auf den paar Quadratmetern vor Mr Naylors Schreibtisch, und da es nicht genug Stühle gibt, müssen Carl und ich stehen.
    Seine Mutter und sein Vater machen ein Riesenfass auf, wie abscheulich ich sei und dass Carls sportliche Karriere dadurch beeinträchtigt werden könnte, dass seine Nase wiederhergestellt werden muss.
    Maureen kontert mit ihrer Version vom armen, drangsalierten Neuling, gewürzt mit schaurigen Beschreibungen durchbohrter Lungen und meiner leuchtenden Zukunft in der Leichtathletik, die jetzt womöglich zunichte gemacht worden ist.
    Alle drohen einander mit Anzeigen. Alle stimmen letztendlich darin überein, dass es nicht erforderlich ist, Außenstehende mit hineinzuziehen und zwei bis dahin unbescholtene Teenager zu kriminalisieren.
    |200| »Ich möchte, dass Carl und Joe darüber reden, welche Auswirkungen diese Vorfälle für sie haben«, sagt Mr Naylor, »und dass sie sich dazu verpflichten, in Zukunft besser miteinander auszukommen. Du zuerst, Carl.«
    »Du hast mir das ganze Gesicht zerschlagen! Ich kann wahrscheinlich monatelang kein Fußball mehr spielen«, sagt

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